Mord und Mandelbaiser
Schau.
»Die Mama hat diese Besonderheit gehabt«, stieß Wally plötzlich aus und starrte dabei unverwandt auf das Stück Sachertorte, das Elisabeth soeben an den Tisch brachte.
Thekla bemerkte, wie Hilde scharf die Luft einsog.
»Ich hab sie sogar fotografiert«, sagte Wally.
Die Ärmste muss unter Schock stehen, dachte Thekla erschrocken. Wir sollten sie zum Arzt bringen oder besser gleich ins Krankenhaus.
Sie wollte ihre Ansicht soeben kundtun, da hörte sie Hilde fauchen: »Jetzt reiß dich gefälligst zusammen, Wally, und hör sofort damit auf, Unsinn zu faseln. Deine Mutter ist samt ihren Besonderheiten tot und begraben. Irgendwann läuft halt für jeden von uns die Zeit ab – für dich, für mich, für Thekla. Heute allerdings sitzen wir im Café Krönner wie jeden Mittwoch. Daran hat sich nichts geändert, und ansonsten ist leider auch so ziemlich alles beim Alten geblieben.«
»Aber«, entgegnete Wally verdutzt, »du hast uns doch vergangene Woche selbst davon erzählt. Dein Neffe, hast du gesagt, macht sich eine Menge Gedanken darüber. Interessieren dich die Male jetzt auf einmal nicht mehr?«
In Thekla keimte eine schockierende Ahnung, wovon Wally sprach. Die wurde zur Gewissheit, als sie fortfuhr: »Der tote Dichter, weißt du noch, Hilde –« Wally unterbrach sich, weil Hilde ihre rechte Hand gepackt hatte, die bereits die Kuchengabel hielt.
»Willst du uns etwa erzählen, dass deine Mutter seltsame Flecken an den Knie-Innenseiten gehabt hat?«
Wally nickte. »Ich habe mir die Verfärbungen am linken Knie von der Mama genau angesehen – und die am rechten auch.«
Thekla beobachtete, wie Hilde schluckte und dabei ein Gesicht machte, als mühe sie sich ab, alles, was Wally soeben von sich gegeben hatte, durch ihre Hirnwindungen zu manövrieren.
Wally befreite ihre Hand aus Hildes Griff, stach ein Stück von der Sacher ab, stopfte es sich in den Mund, legte die Kuchengabel weg und begann daraufhin, in ihrer Handtasche zu kramen.
Wenig später beugten sich drei Köpfe mit ganz unterschiedlichen Haartrachten über das Display einer kleinen Fotokamera.
»Seht ihr«, kam es unter Wallys hellblondierter Dauerwelle hervor. »Hier ist so ein Mal, und da ist so ein Mal. Sind sie nicht genau so, wie du gesagt hast, Hilde?«
Der braune Pagenkopf mit den zahllosen weißen Strähnen veränderte ruckweise den Abstand zum Display, kam ganz nahe und entfernte sich wieder, als wollte Hilde sichergehen, dass weder eine größere noch eine kleinere Distanz das Bild zum Verschwinden bringen würde.
Thekla fuhr sich mit den Fingern durch die kurz geschnittenen grauen Haare und richtete sich auf. »Mit ziemlicher Sicherheit handelt es sich um Holzer-Blasen.«
Der Pagenkopf fuhr hoch. »Deinem Bruder ist das Symptom bekannt?«
Statt einer Antwort begann Thekla in ihrem Einkaufskorb herumzusuchen, den sie auf dem Boden abgestellt hatte. Nach wenigen Augenblicken legte sie ein paar zusammengeheftete Blätter auf den Tisch.
»Ihr solltet euch das mal ansehen.«
Teller und Tassen wurden beiseitegeschoben, und die drei unterschiedlichen Haarschöpfe beugten sich über das Deckblatt.
»Kein Unterschied zu erkennen«, sagte Hilde, nachdem ihr Blick mehrmals zwischen dem Computerausdruck und dem Display von Wallys Kamera hin- und hergewandert war.
Thekla und Wally stimmten ihr zu.
»Holzer-Blasen«, las Hilde laut von der nächsten Seite ab, dann ging ihre Stimme in ein unverständliches Murmeln über, nur von Zeit zu Zeit sprach sie ein, zwei Worte gut hörbar aus: »… Nekrose der ekkrinen Schweißgänge … Rechtsmedizin … Abzugrenzen von Brandblasen …« Sie knickte die ersten beiden Blätter komplett um den Falz, sodass sie unter dem schmalen Bündel zu liegen kamen, und las weiter. »Knie-Innenseiten … am deutlichsten … oft auch Knöchel …«
Der Pagenkopf schoss hoch und wandte sich heftig der hellblonden Dauerwelle zu. »Hast du die Flecken auch auf den Knöcheln deiner Mutter gefunden?«
Wally zuckte zusammen und machte ein schuldbewusstes Gesicht. »Was für Knöchel?«
Einen Moment lang schien Hilde irritiert, dann sagte sie scharf: »Die Fußknöchel werden wohl gemeint sein, was sonst.« Plötzlich fasste sie Thekla ins Auge. »Wo hast du die Beschreibung überhaupt her?«
Thekla ließ sich Zeit mit der Antwort. Sie zog ihren Kuchenteller zu sich heran, stach ein Stückchen von ihrer Agnes-Bernauer-Torte ab und kaute es langsam, bevor sie sagte: »Ich habe Dr. Friesing zurate gezogen.
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