Mord und Mandelbaiser
kriegen?«
»Letzte Seite«, antwortete Thekla trocken.
Hilde zerfledderte das Papierbündel, bis sie die letzte Seite gefunden hatte, die wegen des Umschlagens der vorderen Blätter irgendwo in der Mitte gelandet war. Dann fing sie abermals damit an, abwechselnd leise und lauter werdend zu lesen: »Neuroleptica … Epilepsie … Luminal mit dem Wirkstoff Phenobarbital … bei Erregungszuständen verordnet.«
Thekla widmete sich ihrer Torte. Erst als Hilde in Schweigen verfiel, wandte sie sich ihr wieder zu.
Hilde hatte ihren knochigen Zeigefinger auf eine Textstelle gelegt und starrte blicklos darauf hinunter. Plötzlich ging ein Ruck durch ihren Körper, ihr Kopf drehte sich in Wallys Richtung, ihr Finger begann, auf das Blatt zu pochen.
»Epilepsie. Man gibt sie vereinzelt bei Epilepsie. Hatte deine Mutter epileptische Anfälle, Wally?«
Wally schaute derart verständnislos drein, dass Hilde sich offenbar genötigt sah, ihre Frage so zu formulieren, als spräche sie mit einem Kind: »Hatte deine Mutter Krampfanfälle, Wally? Hat sie manchmal gezuckt oder stark gezittert? Ist sie danach ganz steif geworden und hatte Schaum vor dem Mund?«
Wally machte entsetzte Krötenaugen. »Nein! Wie kommst du nur auf so was? Die ganzen Jahre über ist die Mama friedlich dagelegen. Krämpfe hat sie niemals gehabt – nie.«
»Danke, Elisabeth«, sagte Thekla. »Ja, Sie können die Teller und Tassen schon mitnehmen, aber bringen Sie mir bitte ein Glas Mineralwasser.«
Während Elisabeth das Geschirr abzuräumen begann, pochte Hildes Zeigefinger wieder auf das Wort »Epilepsie«, das auf dem Computerausdruck kursiv geschrieben war.
Thekla bemerkte, wie Elisabeths Blick daran hängen blieb und dabei ganz abwesend wirkte.
»Kennen Sie etwa jemanden, der daran leidet?« Die Frage kam völlig unbedacht aus Theklas Mund.
Elisabeth nickte. »Ein früherer Nachbar von mir hat als kleines Kind ganz üble Anfälle gehabt. Er ist deswegen oft im Krankenhaus gewesen. Bis er dann irgendwann die richtigen Medikamente verordnet bekam. Von da an war alles gut. Aber er musste halt seine Arznei regelmäßig einnehmen.«
Thekla hörte nicht mehr richtig zu. Ihre Aufmerksamkeit war von einem Geschehen in der Steinergasse abgelenkt worden, die direkt neben dem Fenster vorbeiführte, an dem sie saß.
Dort draußen an der Ecke stand Heinrich Held. Er machte den Eindruck, als warte er auf jemanden. Ungeduldig sah er sich um, schaute zwischendurch auf seine Armbanduhr, warf ein-, zweimal einen Blick auf die Fensterfront des Krönner.
Wartet er etwa auf mich?, fragte sich Thekla und fühlte Erregung in sich aufsteigen.
Plötzlich stellte Held sich mit dem Gesicht zur Hausmauer und schien sich in einen Aushang zu vertiefen, der sich dort in einem kleinen Schaukasten befand.
Hofft er, dadurch weniger aufzufallen?, fragte sich Thekla. Weiß er denn nicht, dass ich ihn direkt im Blick habe?
Langsam dämmerte ihr, dass Held nicht von ihr, sondern von jemand anderem unbemerkt bleiben wollte.
Aber von wem?
Thekla spähte die Steinergasse suchend hinauf und hinunter, ließ den Blick über die Eingänge der Geschäfte wandern und über die Passanten, die vor den Auslagen stehen geblieben waren. Neben einem Ständer mit Handtaschen entdeckte sie die Witwe des Dichters. Gerlinde Lanz wirkte unschlüssig, als könne sie sich nicht recht entscheiden, wohin sie sich wenden sollte. Schließlich ging sie in Richtung Stadtgraben davon. Heinrich Held folgte ihr.
Thekla sah ihm nach, bis er um eine Ecke verschwand. Als Held fort war, fand ihr Blick wieder zum Kaffeetisch im Krönner zurück, und sie hörte Hilde an Elisabeth gewandt sagen: »Steht euer Haus nicht neben dem der Meilers?«
Elisabeth antwortete bereits im Gehen begriffen: »Ja, aber bei Meilers wohnt jetzt niemand mehr.«
Hildes Stimme hielt sie zurück. »Ich weiß. Sie ist tot, und er sitzt dafür im Knast. Haben sie keine Kinder?«
Elisabeth stellte das Geschirr auf den Tisch zurück. »Sie hatten eines, aber das ist mit zwei Jahren im Moosbach ertrunken, er führte damals Hochwasser. Kurz danach ist Meilers Halbbruder ausgezogen, der bis dahin noch im Haus gewohnt hatte. Ab da waren die beiden allein.« Sie verflocht die Finger ineinander. »Ich werde niemals begreifen, wie es dazu kommen konnte, dass Alf seine Frau ermordet hat – nie. Jeder konnte sehen, wie gut sich die beiden verstanden haben, und keiner hätte dem Alf so eine Tat zugetraut. Er wirkte immer so
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