Mord und Mandelbaiser
Räuspern ihres Bruders drehte sie sich um.
Dazu war es höchste Zeit, weil mit dem »Bing, Bing« offenbar gleich drei Kunden hereingekommen waren. Heinrich Held befand sich allerdings nicht unter ihnen.
Thekla riskierte einen raschen Blick nach draußen. Sowohl der Lieferwagen als auch Heinrich Held waren verschwunden.
Zum Klang mehrerer »Bings« verkaufte Thekla eine gute halbe Stunde lang Mittelchen gegen Kopfweh, Gliederschmerzen, Darmkatarrh; dann ließ der Kundenansturm nach.
»Das war’s für heute«, sagte Martin gerade, als sich die Ladentür mit einem einsilbigen »Bing« noch einmal öffnete.
Thekla stockte kurz der Atem, doch herein kam nicht etwa Heinrich Held, sondern Horst Zankl, ein entfernter Verwandter der Geschwister Stein. Er sah sehr bekümmert aus.
Thekla ahnte, was geschehen war. Seit Wochen war ja damit zu rechnen gewesen.
Horst Zankl und seine Frau – beide gut in den Achtzigern – bewohnten, seit Thekla denken konnte, ein winziges Häuschen hinter der Apotheke. Vor einigen Jahren hatte Babett Zankl einen Schlaganfall erlitten und wurde seither von Horst gepflegt, der als notorischer Geizhals galt.
»Babett ist gestorben«, teilte Horst Zankl den Geschwistern Stein nun mit.
Thekla sagte sich, dass sie nicht umhinkomme, der gesellschaftlichen Etikette Genüge zu tun, trat hinter dem Tresen hervor auf Zankl zu und reichte ihm die Rechte. »Mein herzliches Beileid.«
Er behielt ihre Hand in der seinen, schaute sie treuherzig an und fragte: »Kannst du mitkommen? Ich bräuchte Hilfe, weil ich es allein nicht schaffe, die Babett anzuziehen und zurechtzumachen.«
Kann ich nicht, will ich nicht, mache ich nicht, hätte Thekla gern erwidert. Soll er sich doch professionelle Hilfe kommen lassen, Herrgott noch mal, dachte sie ärgerlich. Das kann er sich wirklich leisten. Aber was macht der alte Geizkragen? Er versucht, mich herumzukriegen, um Kosten zu sparen.
Laut sagte sie: »Die Babett ordentlich versorgen, das kann doch ein Bestatter viel …«
Zankl ließ sie nicht ausreden. »Ein Wildfremder … meine Babett … Das meinst du doch nicht ernst, Thekla.«
Völlig ernst, dachte Thekla. Todernst, um es makaber auszudrücken. Sie machte ein verschlossenes, abweisendes Gesicht.
Zankls Hundeblick verwandelte sich in ein anklagendes Starren. »Ja, wenn du mir nicht helfen willst, kann man wohl nichts machen. Da muss ich mich halt allein abmühen.«
Seine Augen wandten sich von Thekla ab und suchten Martin, der ebenfalls kondoliert, sich jedoch sofort wieder hinter den Tresen zurückgezogen hatte. »Bist du auch so herzlos wie deine Schwester?«
Martin gab keine Antwort. Er sah aus, als hätte man ihn soeben auf dem elektrischen Stuhl festgeschnallt.
Erpresser, dachte Thekla, elendiger. Du weißt genau, dass Martin sich nicht widersetzen wird, und ebenso gut weißt du, dass er beim Anblick der Leiche einen Nervenschock kriegt.
Seufzend gab sie nach. »Ich gehe mit.«
Sie wollte sich aus ihrem weißen Kittel schälen, überlegte es sich jedoch anders und behielt ihn an.
Den kann ich notfalls danach wegschmeißen, dachte sie und spielte kurz mit dem Gedanken, Mundschutz und Einmalhandschuhe einzustecken, um sie beim Versorgen der Toten zu tragen. Derart ausgerüstet würde sie sich wahrhaftig besser fühlen. Widerstrebend entschied sie sich jedoch dagegen. Horst Zankl würde es wohl als Affront betrachten.
Als sie sich in Bewegung setzte, hielt Martin sie auf. »Nein, ich gehe, denn du wirst hyperventilieren und in Ohnmacht fallen.«
»Werde ich nicht«, widersprach Thekla. »Vor Babett muss ich keine Angst haben. Sie will mir doch nichts Böses.« Damit folgte sie Zankl aus der Tür. Als sie einen Blick zurückwarf, sah sie Verblüffung in Martins Miene. Seine Lippen bewegten sich, und Thekla meinte ihn sagen zu hören: »Der Zahnarzt wollte dir doch auch nichts Böses.«
Babetts Leiche war mit einem weißen Laken zugedeckt. Obenauf lag der Totenschein. Wie zu erwarten, war er von Dr. Stenglich unterschrieben. Als Todesursache hatte er »Sepsis« eingetragen.
»Alles erledigt«, sagte Zankl, dem Theklas Blick auf das Schriftstück anscheinend nicht entgangen war. »Dr. Stenglich hat sich meine Babett angeschaut und gesagt, dass sie nun endlich alles überstanden hat.« Er atmete tief durch, straffte sich und fügte hinzu: »Wir zwei richten sie jetzt hübsch her, und dann kann der Bestatter mit dem Sarg kommen.«
Thekla hielt die Luft an, als er das Laken wegzog.
Wehmütig
Weitere Kostenlose Bücher