Mord unter den Linden (German Edition)
Otto als
unabhängigem Experten ausdrücklich begrüßte.
Otto lächelte
zufrieden, als er an seinen neuen Freund, seinen Bruder und Moses dachte.
Weniger gut als den dreien ging es vermutlich Anna.
Otto hatte gehört,
dass Jean-Paul sie und die Kinder verlassen hatte. Er lebte nun mit der
ehemaligen Gouvernante der Familie zusammen, die, so erzählte man sich, nach
der Wölbung ihres Bauches zu urteilen, bereits im siebten oder achten Monat
schwanger war.
Auch für Karl
Vitell hatte sich das Blatt gewendet. Noch in der Nacht, als sein Haus
abgebrannt war, war gegen ihn ein Haftbefehl erlassen worden. In einer groß
angelegten Fahndung waren an alle Polizeidienststellen nördlich der Mainlinie
Telegramme mit seiner Beschreibung geschickt worden.
Trotzdem war er
mehrere Wochen lang verschollen gewesen, bis er in einer Pension am Hamburger
Hafen verhaftet worden war. Im Gefängnis hatte er aufgrund des Drogenentzugs
einen schweren körperlichen Zusammenbruch erlitten und war lange bettlägerig
gewesen. Erst nach Wochen war er überhaupt vernehmungsfähig gewesen.
Unterdessen hatte
der Matrose die Morde an Graf von Kentzin und dem jungen Arbeiterführer gestanden
und den Kommerzienrat als Auftraggeber entlarvt. Bei der Kreuzigung der Frauen
hatte Vitell vermutlich Hilfe von seinem Leibdiener Jewgeni erhalten, der auch
die Schuhe mit dem auffälligen Kreuzprofil aus von Grabows Gartenhütte
gestohlen haben könnte, um belastende Spuren zu hinterlassen.
Besonders
erfreulich fand Otto, dass es in Berlin zu keinen größeren Ausschreitungen mehr
gekommen war. Die Situation unter den Arbeitern hatte sich nach dem Tod von
Alfons Meyer zwar bedrohlich zugespitzt, aber den besonnenen Sozialdemokraten
um August Bebel war es gelungen, beruhigend auf die gewaltbereiten Heißsporne
einzuwirken. Darüber hinaus hatte es nach dem endgültigen Ende des
Sozialistengesetzes und der Heimkehr der ausgewiesenen Sozialdemokraten überall
im Kaiserreich friedliche Feiern gegeben.
In einigen Tagen
würde der Prozess gegen Vitell beginnen. Der Matrose würde gegen ihn aussagen,
um selbst der Todesstrafe zu entgehen.
Die Beweislast war
erdrückend, und mit großer Wahrscheinlichkeit würde der Kommerzienrat schuldig
gesprochen und hingerichtet werden.
Otto hatte sich
intensiv um ein Gespräch mit Vitell bemüht, um einige Fragen zu klären, die ihm
keine Ruhe ließen. Doch erst für den heutigen Tag hatte ihm die Justizbehörde
einen Besuch gestattet.
Otto setzte seinen
Zylinder auf, warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel und machte sich
auf den Weg zum Untersuchungsgefängnis.
Im Untersuchungsgefängnis
Das Besuchszimmer
war von einer beklemmenden Enge. Die grauen, grob verputzten Wände schienen
einen zu erdrücken. Das vergitterte Fenster war so hoch angebracht, dass man
nicht einmal einen Blick in den Hof werfen konnte. Die hölzerne Tischfläche
glänzte speckig, und die Stühle ächzten bei jeder Bewegung, als litten sie
unter Schmerzen.
Es war eine
deprimierende Atmosphäre, und Otto war froh, dass er hier nicht mehr Zeit als
unbedingt nötig zubringen musste.
Als er auf dem
Gang Schritte hörte, legte er seine Unterarme auf die Tischfläche und
verschränkte die Finger ineinander. Ein breitschultriger Wachmann schob Karl
Vitell in das Besuchszimmer und drückte ihn auf den Stuhl.
»Danke«, sagte
Otto. »Sie können jetzt gehen.«
»Wenn er frech
wird oder sonst irgendwelche Zicken macht, rufen Sie einfach nach mir«, sagte
der Wachmann. »Ich steh draußen vor der Tür.«
Vitells gefesselte
Hände lagen in seinem Schoß. Die Venen schimmerten bläulich. Unter den langen,
rissigen Fingernägeln sammelte sich schwarzer Dreck. Sein einst so sorgfältig
gepflegtes Haar wirkte farb- und glanzlos. Zwar hatte Vitell ohne die Drogen
und wegen der regelmäßigen Gefängniskost zugenommen, aber sein Gesicht sah
ungesund und teigig aus. Seine Augen huschten wachsam hin und her.
»Wenn Sie
glauben«, sagte der Kommerzienrat, »dass ich aus dem Nähkästchen plaudere,
haben Sie sich getäuscht. Was ich zu sagen hatte, habe ich bereits gesagt.«
Otto hatte über
den Commissarius von Vitells mangelnder Kooperationsbereitschaft gehört.
Allerdings wusste
er auch, dass ein Mensch, der es gewohnt war, alles zu kontrollieren, schier
wahnsinnig werden musste, wenn sein gesamter Tagesablauf fremdbestimmt war, ja
wenn er nicht einmal die Utensilien hatte, die er brauchte, um sich, wie einst
in Freiheit, ordentlich frisieren
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