Mord unter den Linden (German Edition)
noch, wie Rieke im Verhör den kleinen Finger abspreizte? Auch das war geplant.
Sie sollten misstrauisch werden und annehmen, dass Rieke log.«
Otto schluckte
hart.
Aus Eitelkeit
hatte Vitell ihn also in die Sache hineingezogen. Wegen seiner
Selbstverliebtheit, wegen seiner uferlosen Egozentrik waren Moses, Ferdinand
und er beinahe ums Leben gekommen.
Am liebsten hätte
Otto ihn gefragt, wie er sich nun fühlte, da er seinen Meister gefunden hatte,
aber er verbiss sich den Spott und erhob sich von seinem Stuhl.
»Warten Sie«,
sagte Vitell. »Bitte richten Sie Rieke aus, dass sie keine Angst zu haben
braucht. Sie soll im Prozess die Wahrheit sagen. Sie hat von meinem Treiben
nichts gewusst, und ich werde ihr keine Steine in den Weg legen, wenn sie noch
einmal von vorn anfangen will. Sie ist der einzige Mensch, der –«
»Hier.« Otto schob
den Perlmuttkamm und das Makassaröl über den Tisch und ging zur Tür, ohne sich
noch einmal umzublicken.
Er hatte genug
gehört. Energisch klopfte er gegen die Tür. »Lassen Sie mich raus.«
Ein paar Zellen weiter
Das Besuchszimmer
im Frauentrakt unterschied sich in nichts von dem im Männertrakt.
Otto setzte sich
auf einen Stuhl und strich nachdenklich über die Tischfläche. Manchmal war es
so verdammt schwer, den richtigen Weg zu finden.
Als er Rieke vor
dem Ertrinken gerettet hatte, war sie in einem jämmerlichen Zustand gewesen.
Am Ufer hatte sie
einen Weinkrampf bekommen. Sie hatte ihn nicht erkannt und ihn hysterisch
angefleht, sie ins Wasser springen und sterben zu lassen. Dann hatte sie
geschrien, dass sie mit ihrem Vater in Sünde gelebt, dass ihr einziger Freund
den Verstand verloren und dass sie selbst ihren Geliebten verraten hätte. Er
hatte beruhigend auf sie eingeredet, aber er war nicht zu ihr durchgedrungen.
Schließlich hatte die Polizei sie abgeholt und ins Untersuchungsgefängnis
gebracht.
Otto hatte sie
noch am gleichen Tag besucht und Bücher und frische Wäsche gebracht. Obwohl
Rieke kaum ein Wort herausgebracht hatte, hatte Otto den Eindruck gewonnen,
dass sein Besuch ihr geholfen hatte. So hatte er sich dazu entschlossen, Rieke
ärztlich zu betreuen und ihr bei ihrer psychischen und physischen Genesung zu
helfen. In den letzten drei Monaten hatte er keinen einzigen Besuchstag
ausgelassen.
Nach und nach
hatte Rieke ihm alles erzählt, wie ihr Vater sie in ein inzestuöses Verhältnis
gezwungen hatte, wie sie den Kommerzienrat kennengelernt hatte und welche Rolle
sie bei seinem monströsen Plan gespielt hatte.
Auf Vitells Wunsch
hin hatte sie mit Elvira Krause wieder Kontakt aufgenommen, hatte sich mit ihr
angefreundet und war an jenem Sommertag im Friedrichshain mit ihr spazieren
gegangen, wo sie Kriminaldirigent von Grabow getroffen hatten. Dass Vitell
diese Begegnung arrangiert hatte, hatte sie nicht gewusst. Sie hatte auch nicht
gewusst, dass er Elvira Krause entführt und gekreuzigt hatte.
Erst als Rieke vom
Tod ihrer früheren Mitschülerin erfahren hatte, hatte sie ihm Fragen gestellt,
aber Vitell war ihr ausgewichen und hatte damit gedroht, ihre Freundschaft zu
beenden und ihr seinen Schutz zu entziehen. Deswegen hatte sie nicht den Mut
aufgebracht, weiter zu bohren, und hatte sich stattdessen an seine Anweisungen
gehalten.
Für das Verhör im
Polizeipräsidium hatte sie sich wie Anna auf dem Verlobungsfoto mit Otto
zurechtgemacht, das Vitell in einem bekannten Berliner Fotoatelier aufgestöbert
hatte. Sie hatte Otto zu einem Bootsausflug eingeladen und ihm dort den
entscheidenden Tipp gegeben, der von Grabow belastete.
Auch hatte Rieke
in der Nacht, als die Frau aus dem Lustgarten ans Kreuz geschlagen worden war,
auf Vitells Weisung Kriminaldirigent von Grabow getroffen. Zuerst hatte sie so
getan, als wolle sie ihn als Elvira Krauses Freundin nach ihrem Tod trösten,
dann hatte sie ihn verführt und sich schließlich im entscheidenden Moment
geziert, sodass der Kriminaldirigent sie mit Gewalt genommen hatte. Weil von
Grabow geglaubt hatte, er habe Rieke vergewaltigt, hatte er kein Alibi für die
Nacht nennen können, in der der zweite Mord passiert war. Die gleiche Methode
hatten Vitell und Rieke im Übrigen auch bei einem Arzt, einem gewissen Dr.
Saretzki, angewandt, um Vitell eine nie versiegende Kokainquelle zu sichern.
Nach den
Gesprächen hatte Otto lange Spaziergänge unternommen und viel trainiert, um die
Informationen zu verarbeiten. Rieke hatte zweifellos Schuld auf sich geladen,
aber wie viel? Wurde Schuld nicht
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