Mord unter den Linden (German Edition)
abgeschwächt, ja endete sie nicht gar, wenn
ein Mensch sein Handeln zutiefst bereute?
Es gab viele
Antworten auf diese Fragen, und letztendlich konnte Otto nur eines mit
Bestimmtheit sagen: Rieke hatte nie eine reelle Chance gehabt, um ein moralisch
korrektes Handeln zu lernen. Seit ihrer Jugend war sie von Männern abhängig
gewesen, die ihre Zuneigung ausgenutzt und sie manipuliert hatten.
Bei all diesen
Überlegungen und bei den Gesprächen mit Rieke hatte Otto stets einen objektiven
Standpunkt eingenommen und seine persönlichen Gefühle ausgeklammert. So hatte
er für Riekes Verhalten und ihre Entwicklung das größtmögliche Verständnis
aufbringen und ihr als Arzt helfen können. Trotzdem hatte er irgendwann
gespürt, dass auch er nur ein Mensch war. Sein Vertrauen war erneut schwer
missbraucht worden. Und ob er nach dieser Erfahrung jemals wieder eine Frau an
sich herankommen lassen würde, konnte er noch nicht sagen.
Jedenfalls
brauchte er jetzt, nachdem er Rieke wieder auf die Beine geholfen hatte,
dringend etwas Zeit für sich, um die Geschehnisse zu verarbeiten und sich zu
überlegen, wie es weitergehen sollte.
»Ist der für
mich?«, fragte Rieke. Sie war in das Besuchszimmer getreten und zeigte auf
einen großen Weidenkorb, der vor Otto auf dem Tisch stand.
»Da sind
Süßigkeiten, Früchte und zwei Romane von Fontane drin«, sagte Otto.
»Du bist so
aufmerksam. Danke!«
»Das mache ich
gern.«
»Mir ist klar,
dass manches, was ich dir erzählt habe, nicht einfach zu verdauen war, aber du
sollst wissen, dass ich ohne dich zugrunde gegangen wäre. Du hast mir das Leben
gerettet. Und zwar gleich zweimal. Zum ersten Mal, als du mich aus der Spree
gezogen hast, und dann noch einmal in den letzten Wochen.«
»Du hast den
ersten Schritt selbst getan. Du hast dich gegen Vitell entschieden, als du mich
in dem Brief vor dem Hinterhalt gewarnt hast. Und das wird man dir anrechnen.«
»Meinst du?«
»Natürlich, und
das sagt auch dein Anwalt. Ich habe gestern noch einmal mit ihm gesprochen.
Außerdem wird dir hinsichtlich der Morde weder ein Tatvorsatz noch eine
Mittäterschaft nachzuweisen sein, sodass du mit einer geringen Strafe
davonkommst. Vielleicht gibt es sogar einen Freispruch.«
»Das wäre zu
schön. Die Anwaltskosten erstatte ich dir natürlich, wenn ich genug Geld habe.«
»Das ist nicht
nötig. Betrachte sie als mein Abschiedsgeschenk.«
»Werden wir uns
nach deiner Rückkehr wiedersehen?«
»Ganz bestimmt.
Sieh du nur zu, dass du in der Zwischenzeit gut für dich sorgst. Wirst du das
Angebot von Clara annehmen?« Otto hatte den Kontakt zu Riekes Jugendfreundin
Clara Bukowski hergestellt. Sie hatte Rieke angeboten, nach ihrer Entlassung
nach Leipzig zu ziehen, um ein neues Leben anzufangen.
»Ja, es ist alles
ausgemacht. Sobald ich hier rauskomme, gehe ich zu ihr. Sie hat mir sogar schon
einen Arbeitsplatz besorgt.«
»Das freut mich
sehr. Ach, mir fällt da noch was ein. Ich habe vor einigen Wochen mit dem
Commissarius über deinen Jugendfreund Jonas gesprochen. Funke hat daraufhin
Ermittlungen angestellt.«
»Jonas ist tot,
nicht wahr?«
Otto nickte. »Man
hat gestern ein Skelett mit zertrümmertem Schädel im Friedrichshain gefunden.
Anhand der Kleidungsreste haben Funkes Leute den Toten eindeutig als Jonas
identifiziert.«
»Ich habe es die
ganze Zeit gewusst. Wird mein Vater ins Gefängnis kommen?«
»Ja. Er wird
endlich bekommen, was er verdient.«
Rieke senkte den
Blick und schaute eine Weile auf den Tisch. Dann sah sie plötzlich auf und
sagte: »Eines sollst du noch wissen und niemals vergessen. So viele Fehler ich
auch gemacht habe – meine Gefühle für dich waren echt. Du bist ein Mann, wie
ihn sich jede Frau nur wünschen kann. Du bist nicht zu anständig oder zu
gutmütig. Du bist genau richtig, so wie du bist.«
»Danke«, sagte
Otto, nahm ihre Hand und drückte sie.
Auf dem Atlantischen Ozean
Einige Tage später
stand Otto an der Reling der » MS Wilhelmine«. Das
große Passagierschiff stampfte kraftvoll durch die graue See und hinterließ
eine Spur weißen Schaums. Die Küste Irlands mit ihren hohen Felsen und grünen
Wiesen verschwand hinter Nebelbänken. Über ihm ertönte das Kreischen von Möwen.
Wie weit mein
Geburtstagsfest schon zurückliegt, dachte er und schloss den obersten Knopf
seines Pelzmantels. Die Zeit war doch eine sonderbare Erscheinung. Man erlebte
sie als das Vergehen von Gegenwart. Sie kannte nur eine Richtung. Unerbittlich
schritt
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