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Mord unter den Linden (German Edition)

Mord unter den Linden (German Edition)

Titel: Mord unter den Linden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Pieper
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setzen. Dazu liebte er sein Leben hier viel zu
sehr.
    Eilig zwängte sich
Otto zum Gang und verließ die Lagerhalle. Draußen sog er die frische Luft ein.
Vor dem Holzschuppen, an dem sein Fahrrad lehnte, setzte er sich auf einen
Stein. Er kramte einen Bleistift und ein kleines Notizbuch aus der Tasche und
verfasste einen Bericht, den er noch heute Abend beim Wachhabenden im
Polizeipräsidium abgeben würde.
    Nachdem er die
Schreibutensilien wieder eingesteckt hatte, stieg er aufs Fahrrad und trat
kräftig in die Pedale. Der Fahrtwind strich sanft über seine Haut, und er
musste an Friederike Dürr denken. Seit ihrem Treffen hatte er sich mehrfach
gefragt, wieso ihr strenger und auf Tugend bedachter Vater ihr erlaubte, in
einem Revuetheater aufzutreten, wo sie den Blicken von zahllosen Männern
ausgesetzt war. Otto hatte keine plausible Erklärung, aber das musste er auch
nicht. Schließlich interessierte er sich nicht für den Drechslermeister,
sondern für dessen Tochter. Und sie würde er schon morgen Abend wiedersehen.

Im Polizeipräsidium
    Am nächsten Tag
tippte Funke nachdenklich mit dem Zeigefinger auf Ottos Bericht, den er in
aller Frühe gelesen und der ihm einige nützliche Denkanstöße gegeben hatte. Als
es an der Tür des Vernehmungszimmers klopfte, rief er laut: »Herein!«
    Eine Frau in den
mittleren Jahren steckte den Kopf durch den Türspalt und fragte: »Bin ich hier
richtig – bei Commissarius Funke?« Sie war stark unterernährt. Unter der
Gesichtshaut zeichneten sich die Schläfenmulden und die hohen, slawischen
Wangenknochen deutlich sichtbar ab. Ihre kleinen hellgrauen Augen stan- den
weit auseinander und hatten einen fiebrigen Glanz.
    »Frau Mehring?«,
fragte der Commissarius. »Bitte kommen Sie herein und nehmen Sie Platz.«
    »Ist sonst nicht
meine Art, zu spät zu kommen«, sagte die Frau und setzte sich auf den Stuhl.
»Ich musste die ganze Strecke zu Fuß gehen. Für den Pferdeomnibus hatte ich
kein Geld mehr.«
    »Ist schon gut.
Die Hauptsache ist, dass Sie jetzt da sind. Zuerst brauche ich einige Auskünfte
zu Ihrer Person. Nennen Sie mir bitte Ihren vollen Namen, Ihre Adresse, Alter
und Beruf.«
    »Rosa Elisabeth
Mehring, geborene Tomaschewski. Dach über dem Kopf in der Blumenstraße 17.
Alter: fünfunddreißig. Und ackern tu ich in der Baumwollfärberei Charlon.«
    Der Commissarius
blickte auf ihre Hände. Die Haut war ausgetrocknet und an mehreren Stellen
aufgeplatzt. Die Wunden sonderten ein milchiges Sekret ab. Wahrscheinlich kam
die Entzündung von den scharfen Chemikalien, die in der Fabrik benutzt wurden.
»Lassen Sie Ihre Hände nicht behandeln?«
    »Wenn Sie mir das
Geld geben: gern.«
    »Hm, hm. Was ist
Ihr Mann von Beruf?«
    »Er ist vor zwei
Jahren zu Gott gegangen.«
    »Das tut mir leid.
Haben Sie Kinder?«
    »Ja, fünf. Die
Anna ist dreizehn und passt auf die anderen vier auf. Wir müssen uns
anstrengen, aber wir schaffen das schon. Wir kommen besser als die meisten
zurecht. Das ist die Wahrheit.«
    »Ich glaube Ihnen,
meine Liebe. Trotzdem ist es sicherlich nicht immer einfach, allein fünf Kinder
durchzubringen?«
    »Eins der Mädchen
hustet im Moment Blut. Manchmal ist sie so klapprig, dass sie sich kaum auf den
Beinen halten kann. Wenn ich meine Glaubensbrüder und -schwestern nicht hätte,
dann wüsste ich nicht weiter.«
    »Wie lange sind
Sie denn schon in der Apostolischen Gemeinde?«
    »Seit Sommer
1888.«
    »Dann fällt Ihr
Beitritt mit dem Tod Ihres Mannes zusammen?«
    »Die Pfaffen in
der Kirche beten doch nur. Und von frommen Sprüchen kann ich mir nichts kaufen.
Ich wusste einfach nicht, an wen ich mich wenden sollte. Für meine Brüder und
Schwestern ist die Nächstenliebe etwas Praktisches, wenn Sie verstehen, was ich
meine?«
    »Hätten Sie sich
auch für Elvira Krause eingesetzt, wenn sie Ihre Hilfe gebraucht hätte?«
    Rosa Mehring
schwieg. Man konnte förmlich sehen, wie sie sich hinter hohen Barrikaden
verschanzte.
    »Wollen Sie meine
Frage nicht beantworten – oder können Sie nicht?«
    »Schon.«
    »Also?«
    »Natürlich hätte
ich ihr beigestanden. Was denken Sie denn? Wir alle hätten ihr geholfen.«
    »Hatte sie denn
Hilfe nötig? Wurde sie beispielsweise bedroht?«
    »Wenn Sie glauben,
dass ich mit der Kreuzigung etwas zu tun habe, sind Sie auf dem Holzweg.«
    »Das war nicht
meine Frage.«
    »Elvira war ein
gutes Mädchen. Sie hat häufig auf meine Kinder aufgepasst. Wenn ich irgendetwas
für sie hätte tun können, dann hätte ich es

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