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Mord unter den Linden (German Edition)

Mord unter den Linden (German Edition)

Titel: Mord unter den Linden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Pieper
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zurück. Was bildete sich
diese Hure eigentlich ein?
    Zornig flüchtete
er sich in den Hauseingang. Welche Möglichkeiten blieben ihm? Er könnte mit
Gewalt in ihre Wohnung eindringen, sie überwältigen und zur Kutsche schleppen.
Allerdings würde das eine Menge Lärm machen, und er lief Gefahr, die
Aufmerksamkeit der Nachbarn zu erregen. Dieses Risiko durfte er nicht eingehen.
Nein, wenn er sein Vorhaben umsetzen wollte, musste er improvisieren. Dieses
Luder hatte alles verdorben!
    »Was?«, sagte er
plötzlich und sah sich nach allen Seiten um. »Was hast du gesagt?« In seinen
Ohren erklang ein schriller Ton, der allmählich zu einem Orgeln anschwoll und
seinen Kopf zu zerreißen drohte. »Nein … ich war ganz brav … ich hab nicht
an mir herumgespielt … bitte … hör auf! Lass mich in Ruhe!«
    Mit der flachen
Hand rieb er über seinen Schädel und summte ein altes Kinderlied, bis die
Frauenstimme in seinem Kopf immer leiser wurde. Mein Gott, dachte er, es geht
schon wieder los. Wenn er die Nerven bewahren wollte, brauchte er einen Schuss.
Jetzt sofort. Sollten die Leute ihn doch beobachten – es war ihm gleichgültig.
    Mit fliegenden
Fingern zog er ein kleines Lederetui und ein braunes Glasgefäß aus der
Jackentasche. Dem Etui entnahm er eine Spritze, tauchte ihre Nadel in die
Lösung im Glasgefäß und zog den Kolben hoch. Hastig löste er die Knöpfe seines
Hosenträgers und ließ die Hose heruntergleiten, sodass sein rechter
Oberschenkel entblößt wurde, der bereits mit schorfigen Einstichen und blauen
Flecken übersät war. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Mauer, rutschte in
die Knie und suchte eine geeignete Stelle. Dann stieß er sich die Nadel in die
Haut und drückte den Kolben herunter. Sobald die Wirkung eingesetzt hatte,
würde er sich eine andere Frau suchen.
     
    Wenig später ging
er über den begrünten Opernplatz und überquerte die Paradestraße Unter den
Linden. Das Kokain hatte seine Wirkung voll entfaltet. Es fühlte sich an, als
liefe er über Watte. Seine Muskeln harmonierten perfekt, ja, manchmal meinte er
sogar, dass Leitungen durch seinen Körper liefen, um seine Nerven mit kleinen
Stromschlägen zu stimulieren.
    Er überquerte die
Schlossbrücke und bog in den Lustgarten ein, wo noch einige Nachtschwärmer
unterwegs waren. Weil sich später niemand an sein Gesicht erinnern sollte,
hielt er den Kopf gesenkt und vermied Augenkontakt. Er zweifelte nicht daran,
dass er früher oder später finden würde, wonach er suchte.
    Die
Straßenprostitution war weitverbreitet in Berlin. Einige Huren verdingten sich
tagsüber als Hehlerinnen, andere schufteten ehrlich in der Fabrik, arbeiteten
als Dienstmädchen, Putzmacherinnen, Blumenmacherinnen, Näherinnen oder bei
Angehörigen in einer Wirtschaft. Viele verkauften Schwefelhölzer, Obst,
Bücklinge, Parfüm und Seifen. Nachts verdienten sie sich ein paar Groschen
dazu.
    Als er die beiden
Brunnen passiert hatte und auf das Reiterdenkmal zusteuerte, blieb eine junge
Frau in der Nähe stehen und fixierte ihn. Doch sie hatte sich bei ihrem
Zuhälter eingehakt und schied deswegen von vornherein aus. Zeugen konnte er
nicht gebrauchen.
    Er ging weiter und
hielt auf die Linden am Spreeufer zu. Am Geländer lehnte eine Gestalt und pfiff
eine Melodie. Als er näher kam, erkannte er ein blasses, ungefähr
sechzehnjähriges Mädchen in Dienstbotenkleidung. Wahrscheinlich hatte sie sich
vom Hausdiener schwängern lassen und brauchte nun Geld, um zu einer
Engelmacherin zu gehen. Von ihr würde er wohl besser die Finger lassen.
    Nun wandte er sich
Richtung Neues Museum. Irgendwo erklangen Hufschlag und das Poltern von
Wagenrädern. Gerade wollte er die Brücke in Richtung Kastanienwäldchen nehmen,
als ihm eine Frau entgegenkam. Unter ihrem Hut lugte helles Haar hervor. Sie
klapperte mit einem Schlüsselbund, um ihm zu bedeuten, dass sie ein Zimmer
hatte.
    Er blieb stehen
und musterte sie von Kopf bis Fuß. Sie war noch jung, vielleicht zwanzig, ein
rötlich blonder Typ mit schmalen blassrosa Lippen und zahlreichen
Sommersprossen. Ihre Taille war schmal, die Brust wölbte sich nur leicht. »Wo
ist dein Louis?«, fragte er.
    »Ich arbeite auf
eigene Rechnung«, erwiderte sie, trat näher und griff ihm in den Schritt. »Es
ist nicht weit.«
    Brutal schlug er
ihre Hand fort und sagte zornig: »Lass das!« Misstrauisch musterte er sie, aber
sie hatte offenbar nicht bemerkt, dass ihm zwei wesentliche Dinge fehlten. Er
beruhigte sich und drehte den

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