Mord unter den Linden (German Edition)
getan.«
»Sie haben meine
Frage immer noch nicht beantwortet. Wurde Elvira Krause bedroht?«
»Was bei uns
geschieht, interessiert doch sowieso niemanden. Die halten doch zusammen wie
Pech und Schwefel. Aber mit uns kann man es ja machen. Für die sind wir doch
nichts weiter als Dreck, mit uns können sie umspringen, wie es ihnen beliebt.«
»Wen meinen Sie,
meine Liebe? Wer sind ›die‹?«, fragte Funke. Als Rosa Mehring keine Antwort
gab, seufzte er tief und sagte: »Mir ist nicht entgangen, dass Sommsai Ihre
Brüder und Schwestern genau instruiert hat. Von allen höre ich die gleiche
Litanei: Elvira Krause sei sehr beliebt und fromm gewesen, sie habe niemals
Feinde gehabt. Und wenn ich frage, wer ihr das angetan haben könnte, gucke ich
nur in leere Gesichter. Ich weiß einfach nicht, was ich davon halten soll.« Der
Commissarius legte erneut die Hand auf Ottos Bericht, der ihn auf eine
interessante Idee gebracht hatte. »Decken die Gemeindemitglieder eine bestimmte
Person? Oder droht Ihnen Gefahr, wenn Sie preisgeben, was Sie wissen? Wenn Sie
mir helfen können, bitte ich Sie inständig, Ihr Schweigen zu brechen. Nicht
meinetwegen, sondern für Elvira Krause.«
»Elvira ist tot,
und ich lebe.«
»Das ist natürlich
richtig, aber Sie wollen doch auch, dass wir ihren Mörder fassen?«
»Sie haben
wirklich keine Ahnung, oder?«
»Deshalb ist es ja
so wichtig, dass Sie mir helfen. Was kann ich nur tun, um Ihnen Mut zu machen?«
Rosa Mehring erhob
sich vom Stuhl und sagte: »Ich muss jetzt die Kinder abholen. Kann ich gehen?«
Der Commissarius
sah die Frau schweigend an. Dann deutete er auf die Tür und sagte: »Bitte.« Als
er wieder allein war, klappte er seinen Notizblock auf, griff nach einem
Bleistift und schrieb: »Vor wem oder was haben die Mitglieder der Apostolischen
Gemeinde Angst?«
Im Belle-Alliance-Theater
Obwohl »Der
Nautilus« von Carl Pander schon zum einhundertzweiundfünfzigsten Mal aufgeführt
wurde, war das Theater restlos ausverkauft. Friederike Dürr hatte Wort gehalten
und eine Eintrittskarte an der Kasse hinterlegt. Otto hatte das Billett
abgeholt und zeigte es nun beim Kontrolleur vor. Dann ging er in die
Proszeniumsloge. Von seinem Platz aus hatte er einen hervorragenden Blick auf
das Parkett, die Bühne und die Musiker.
Otto war den
ganzen Tag über mit Vorbereitungen für die Fahrt nach München beschäftigt
gewesen und freute sich jetzt auf einen unterhaltsamen Abend. An seiner
gelösten Stimmung konnte auch der Mann nichts ändern, der direkt neben ihm
Platz nahm und ein Schreibheft bereitlegte. Offenbar handelte es sich um einen
Polizeispitzel, der das Stück mitschreiben würde und prüfen sollte, ob Kritik
am Kaiserhaus geäußert wurde.
Als es still
wurde, blickte Otto zur Bühne und sah, wie sich der Vorhang öffnete. Das
Bühnenbild zeigte einen Marktplatz, auf dem sich Bürger und Matrosen
versammelten, um ein Haus, die Brieftaubenpost, zu stürmen. Ein Polizist hielt
die aufgebrachte Menge zurück. Im Hintergrund blähte sich ein Heißluftballon,
der von zwei Männern bewacht wurde. Als Fritz, ein Schiffsjunge, auftrat, rief
eine Zuschauerin: »Ich hab dir 'ne Stulle mitgebracht!« Das Publikum brach in
lautes Gelächter aus.
Otto verstand den
Witz zwar nicht, aber der Schiffsjunge kam ihm bekannt vor. Die schlanke
Gestalt und die saphirblauen Augen waren ihm nur allzu vertraut. Auch klang
seine Stimme zu hell für einen jungen Mann. Da begriff Otto: Fritz wurde von
Friederike Dürr verkörpert.
Bei ihrer ersten
Begegnung im Polizeipräsidium hatte sie einen schüchternen, beinahe keuschen
Eindruck auf ihn gemacht. Zu Hause in Gegenwart ihres Vaters hatte sie
ängstlich gewirkt. Und jetzt stand sie hier auf der Bühne und spielte einen
aufgeweckten Knaben. Es hatte ganz den Anschein, als hätte er es mit einer sehr
vielschichtigen Persönlichkeit zu tun.
Das Stück griff
Motive aus Jules Vernes Roman »Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer« auf. Die
Handlung spielte zur Zeit des Sezessionskrieges. Der Ingenieur Edison floh
zusammen mit Schrader, dem Steuermann eines hamburgischen Schoners, und Fritz,
dem Schiffsjungen, mit Hilfe eines Heißluftballons aus Richmond. Mit von der
Partie war auch ein amerikanischer Seemann namens Redland. Zufällig landete die
Gruppe auf einer tropischen Vulkaninsel, wo der greise Kapitän Nemo mit seinem
Unterseeboot Nautilus ankerte. Kapitän Nemo schloss den jungen Edison sofort
ins Herz, vertraute ihm seine wunderschöne
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