Mord unter den Linden (German Edition)
dreckige
Jackett nicht beschädigt. Vielmehr wurde es – wie auch die Hose – gründlich
ausgebürstet. Und dann die Schuhe: Auch sie sind alt, aber das Oberleder ist
ordentlich eingefettet und gewienert worden. Aus all diesen Beobachtungen
können wir schließen, dass wir einen Mann vor uns haben, der um den Wert der
Dinge weiß und verantwortungsvoll mit ihnen umgeht. Jetzt schauen Sie mal einen
Tisch weiter.«
»Sie meinen den
Modegeck mit seinem Monokel?«
»Ganz genau. Seine
Kleiderwahl richtet sich, so wie Sie es sofort erkannt haben, nach dem
aktuellen Geschmack. Vermutlich tauscht er seine Garderobe jede Saison aus, und
vermutlich wechselt er seine Geisteshaltung ebenso rasch. Von einem solchen
Mann dürfen wir keine große Lebensweisheit erwarten, um die er viele Jahre
gerungen und die er aus eigenen Erfahrungen geschöpft hat. Gleichzeitig können
wir ihm durchaus zutrauen, dass er über viele Neuigkeiten auf dem Laufenden
ist. Was sagen Sie zu seiner Nachbarin?«
Friederike Dürr
betrachtete die Frau, die ein leuchtend rotes Oberteil und einen Hut mit
üppigem Blumenschmuck trug, und zuckte mit den Achseln.
»Sie passt
eigentlich sehr gut zu unserem Modefreund, finden Sie nicht?«, sagte Otto. »Sie
will um jeden Preis auffallen. Und bei wem wollen die Frauen Aufmerksamkeit
erregen? Natürlich bei den Männern. Deshalb dürfen wir davon ausgehen, dass sie
einem kleinen Flirt nicht abgeneigt ist.«
»Aber müssen, wenn
man von der Kleidung auf einen Charakter schließt, nicht auch Stimmungen
berücksichtigt werden?«
»Das ist richtig,
aber wenn sich jemand von seinen Stimmungen so stark beeinflussen lässt, dass
er von ihnen seine Kleiderwahl abhängig macht, charakterisiert ihn das schon
genügend.«
»Ich verstehe«,
sagte Friederike Dürr. »Ich habe mich nur gerade gefragt, was mein
Kleidungsstil über mich verrät.«
»Aber Fräulein
Dürr«, sagte Otto schnell. »Auf Sie treffen all diese Allgemeinplätze natürlich
nicht zu. Für Sie müsste man eine gänzlich neue Kategorie eröffnen. Als
Schauspielerin müssen Sie ja schon von Berufs wegen in zahllose Rollen schlüpfen.
Und dass die Schauspielerei auch auf Ihr Privatleben abfärbt, erklärt sich doch
von selbst.«
Friederike Dürr
sah ihn erst skeptisch an, dann wurde ihr Blick nachsichtig. »Sie sind wirklich
ein anständiger Mann, Herr Doktor.«
Otto verstand
nicht, warum sie ihm schon wieder Komplimente machte, aber er forschte nicht
weiter nach, sondern freute sich einfach darüber.
Angeregt
unterhielten sie sich weiter. Ohne sich das »du« anzubieten, wurde ihr
Umgangston vertraulicher, ihr Verhalten zwangloser. Sie lachten viel, erzählten
von sich und nannten sich plötzlich beim Vornamen.
Als Otto von
seinem Aufenthalt in Deutsch-Südwestafrika berichtete, lauschte Rieke
aufmerksam. Sie hing förmlich an seinen Lippen und wollte immer mehr Details
wissen. Otto berichtete von gerösteten Heuschrecken, blutroten
Sonnenuntergängen und der abenteuerlichen Begegnung mit einem Löwen. Sein
Gesicht glühte vor Freude, und er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt
einen so schönen Abend verbracht hatte.
Als sie den
Biergarten verließen, standen auf dem Vorplatz mehrere Droschken erster Klasse
bereit. Die Kutscher trugen blaue Röcke mit silberner Kragenborte, rauchten
Pfeife und diskutierten über den Anschlag auf das Schöneberger Nationaldenkmal.
Otto bezahlte
einen von ihnen, öffnete Rieke den Verschlag und reichte ihr die Hand, um ihr
beim Einsteigen behilflich zu sein. Als sie ganz nah bei ihm stand, stieg ihm
ihr süßer Duft in die Nase. Er war kurz davor, sich von seinen Gefühlen
hinreißen zu lassen. Da entzog sie ihre Hand der seinen und kletterte schnell
in die Kabine.
»Ich hoffe, dass
wir uns bald wiedersehen«, sagte sie und schenkte ihm ein Lächeln, das ihn fast
um den Verstand brachte. Dann gab sie dem Kutscher ein Zeichen loszufahren.
Otto sah ihr mit
glänzenden Augen nach. Erst dann fiel ihm siedend heiß ein, dass er sie
überhaupt nicht mehr zum Tod von Elvira Krause befragt hatte.
Bei Commissarius Funke
Der Commissarius
hatte in seiner Wohnung in der Potsdamer Straße gekocht und den Esstisch
gedeckt. Jetzt nahm er sich Rindsrouladen, Kartoffeln, buntes Gemüse und
reichlich Soße und breitete eine Serviette über seinen Schoß.
»Gesegnete
Mahlzeit«, sagte er und griff nach dem Silberbesteck. Ihm gegenüber stand –
neben einem ebenfalls gefüllten und dampfenden Teller – ein Porträt
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