Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mord unter den Linden (German Edition)

Mord unter den Linden (German Edition)

Titel: Mord unter den Linden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Pieper
Vom Netzwerk:
seiner
Großmutter, das zu seinen besten Bleistiftzeichnungen zählte und ihren gütigen
Gesichtsausdruck treffend eingefangen hatte. Als uneheliches Kind war er gleich
nach der Geburt in ihre Obhut gegeben worden. Seine Mutter hatte er kaum
gesehen, die Großmutter aber hatte ihn mit all der Nachsicht erzogen, die so
charakteristisch ist für ältere Menschen. Hier in dieser Wohnung hatten sie bis
vor fünf Jahren zusammengelebt. Obwohl seine Großmutter über neunzig geworden
und ihr Tod absehbar gewesen war, hatte der Verlust Funke völlig aus der Bahn
geworfen. Lange war er untröstlich gewesen und hatte die gemeinsamen Gespräche
schmerzlich vermisst, bis er einen Weg gefunden hatte, weiterhin mit ihr in
Kontakt zu treten.
    »Du hast dir so
viel Mühe gegeben«, hörte er sie nun im Geiste sagen, »und es riecht auch so
gut, aber du vergisst manchmal, dass alte Leute nicht mehr so viel essen
können.«
    »Bisher hast du
deinen Teller immer geleert und sogar einen Nachschlag verlangt.«
    »Das stimmt wohl«,
erwiderte sie lächelnd. »Also dann: gesegnete Mahlzeit!«
    Seine Großmutter
hatte ein arbeitsreiches Leben gehabt und war nur zur Volksschule gegangen,
aber im Laufe der Jahre hatte sie ein tiefes Wissen um das Wesen der Dinge
erworben, das ihm schon oft geholfen hatte.
    »Ich komme bei
meinem Fall nicht weiter«, sagte er und trank einen Schluck Rotwein.
    »Was hast du denn
bis jetzt herausgefunden?«, fragte seine Großmutter.
    »Wir haben eine
Kreuzigung, einen Schuhabdruck mit Kreuzprofil und ein Opfer, das Mitglied
einer Sekte war. Die Apostolische Gemeinde glaubt, dass der Weltuntergang kurz
bevorsteht. Alle Hinweise deuten also auf einen religiösen Hintergrund hin.«
    »Aber irgendetwas
kommt dir komisch vor?«
    »Vor allem die
Kreuzigung bereitet mir Kopfzerbrechen. Sie galt früher – anders als Köpfen und
Steinigen – als besonders grausame Hinrichtungsart, die das Leiden der zum Tode
Verurteilten verlängerte. Durch Jesus' Sühnetod hat die Kreuzigung natürlich
eine viel tiefere Bedeutung bekommen.«
    »Du meinst also,
dass auch mit dem Tod der jungen Frau die Vergehen der Menschen gesühnt und sie
vor einer Bestrafung durch Gott bewahrt werden sollen?«
    »Die Sekte glaubt
an den baldigen Weltuntergang, und da läge ein Sühnetod durchaus nahe. In
diesem Fall stellt sich natürlich die Frage, ob die Kreuzigung mit oder ohne
die Einwilligung der Frau erfolgte.«
    »Dann war es gar
kein Mord?«
    »Weder die Presse
noch die Öffentlichkeit haben eine solche Möglichkeit bisher in Betracht
gezogen. Eine Kreuzigung erscheint den meisten Menschen wohl als zu qualvoll,
um sie freiwillig auf sich zu nehmen. Zudem wissen wir nicht einmal, ob Elvira
Krause noch am Leben war, als sie ans Kreuz geschlagen wurde, und wie lange sie
am Kreuz hing, ehe das Feuer entzündet worden ist. Aber im Grunde bin ich davon
überzeugt, dass es Mord war.«
    »Also doch.«
    » Naturellement! Nehmen wir einfach mal an, auch wenn das
sehr unwahrscheinlich ist, dass sie tatsächlich ihr Einverständnis gegeben hat.
Dann wäre sie geistig krank, ja von einer Art religiösem Wahnsinn besessen
gewesen. Wenn nun eine andere Person von ihrem Zustand gewusst und ihn
ausgenutzt hat, so hätte sie sich auch eines Tötungsdelikts strafbar gemacht.
Aber ganz abgesehen davon: Alle konkreten Hinweise deuten darauf hin, dass
Elvira Krause keineswegs mit ihrem Tod gerechnet hat.«
    »Und warum?«,
fragte seine Großmutter.
    »In der
Handschuhfabrik war sie erst kürzlich zur Vorarbeiterin befördert worden. Ihr
Chef hat mir berichtet, dass sie – trotz ihres zurückhaltenden Wesens – mit
viel Fleiß darauf hingearbeitet hat. Mit dem zusätzlichen Einkommen wollte sie
ihrer Mutter, die schon lange an einem Beinleiden laboriert, eine aufwendige
Operation bezahlen. Und am Tag vor ihrem Tod hat sie mit ihrem Chef noch einen
Termin vereinbart, um über zwei Kolleginnen zu sprechen, die ihr Arbeitspensum
nicht erreicht hatten.«
    »Und jetzt glaubst
du, dass ein Mensch, der noch so viele Pläne hatte, sich nicht von einem Tag
auf den anderen entscheidet, sich an ein Kreuz nageln zu lassen?«
    »Ganz genau. Und
außerdem bin ich nach zahlreichen Verhören zu der Überzeugung gelangt, dass die
meisten Mitglieder der Apostolischen Gemeinde nicht wegen des prophezeiten
Weltuntergangs beigetreten sind, sondern weil sie materielle Hilfe, Trost oder
einfach nur menschliche Nähe gesucht haben. Keiner von den Vernommenen macht
auf mich den

Weitere Kostenlose Bücher