Mord unter den Linden (German Edition)
war es überhaupt möglich,
dass er nach so vielen Jahren noch einmal einen sexuellen Höhepunkt erlebte?
Nach der
Kastration hatte er sich mehrere Jahre lang selbst befriedigt. Anfangs hatte er
den Höhepunkt ohne Probleme erreicht, allerdings war das Ejakulat ohne Samen
gewesen und hatte anders als früher gerochen. Mit der Zeit hatte sich die Menge
auf ein, zwei Tropfen reduziert, bis er schließlich gar nicht mehr ejakulieren
konnte. Auch seine Erektionsfähigkeit hatte nachgelassen; trotz raffinierter
Stimulation war sein Geschlecht immer wieder schon nach wenigen Sekunden
erschlafft. Schließlich war seine Frustration so groß geworden, dass er nicht
mehr versuchte, sexuelle Befriedigung zu finden.
Seit er Kokain
spritzte, hatte sich jedoch etwas verändert. Die Injektionen ließen ihn nicht
nur seine körperlichen Gebrechen vergessen, sondern gaben ihm pure Energie. Sie
verliehen ihm Erhabenheit und wirkten wie ein Aphrodisiakum. Phantasien
irrlichterten durch seinen Kopf, Erinnerungen stimulierten ihn, und in den
Straßen hielt er wieder nach ihnen Ausschau.
Nur ein einziges
Mal wollte er den Gipfel noch erklimmen, nur ein einziges Mal wollte er die
Bürde seines gepeinigten Körpers abschütteln. Natürlich wusste er, dass ihn die
Jagd nach dem Höhepunkt nie wieder beherrschen durfte, so wie früher. Wenn er
jetzt die Kontrolle verlor, waren seine Tage in Freiheit gezählt. Deshalb hatte
er sich geschworen, nach dieser Frau aufzuhören.
Jetzt, da sie sich
in seiner Macht befand, schämte er sich nicht mehr. Er wollte sich ihr zeigen.
Er griff nach dem Messer und erhob sich langsam vom Stuhl. Als sich ihr
angstvoller Blick auf seinen Leib heftete, zuckte etwas lustvoll in ihm
zusammen. In seinem Hinterkopf züngelte eine Flamme.
»Sieh nur, was du
mir angetan hast«, sagte er und zerschnitt mit der Klinge, die wie ein Phallus
emporstand, die Luft. Ob er die Invaliden-Lotte, die jetzt geknebelt an der
Mauer hing, seine Mutter oder die Peinigerin aus Courcelles meinte, war ihm
selbst nicht klar. Die drei Frauen verschwammen zu einem einzigen Objekt seiner
Wut. Er leckte sich die spröden Lippen und befreite die Invaliden-Lotte von dem
Knebel.
Sie warf den Kopf
in den Nacken und flehte ihn an: »Bitte! Lassen Sie mich laufen! Sie können
mich nehmen, sooft Sie wollen, aber lassen Sie mich dann laufen. Ich hab eine
kleine Tochter. Ohne mich ist sie ganz allein auf der Welt. Ich verspreche auch,
dass ich niemandem etwas erzähle.«
»Woher soll ich
wissen, dass du die Wahrheit sagst?«
»Ich schwöre es«,
sagte die Invaliden-Lotte und rüttelte an den Ketten. »Bitte lassen Sie mich
gehen!«
Er beobachtete den
Schlund, der sich zwischen ihren Schenkeln auftat. Er war dunkel und tief und
übte einen unwiderstehlichen Sog auf ihn aus. Jetzt wusste er, wie er sein Werk
beginnen musste. Sein Puls beschleunigte sich, und immer mehr Blut strömte in
seine Lenden.
Im Polizeigefängnis am Alexanderplatz
Bis auf einen
stinkenden Nachttopf und eine Holzpritsche war die Zelle leer. Mit großen
Schritten durchmaß Otto den Raum und haderte mit seinem Schicksal. Wenn er hier
nicht bald rauskam, würde er den Zug nach München verpassen. Und wenn er den
Zug verpasste, würde er beim Meisterschaftsfahren von Deutschland nicht
antreten können. Wie hatte er seine Teilnahme nur so leichtsinnig aufs Spiel
setzen können?
Plötzlich hielt
Otto inne und lauschte. In das Schnarchkonzert der anderen Häftlinge mischten
sich Schritte und ein rhythmisches, dumpfes Klopfen. Ein Gefangener in einer
Nachbarzelle wachte auf und beschwerte sich lautstark. »Nicht einmal schlafen
kann man hier!«
Mit der Hand rieb
sich Otto über die Schulter, die von seinem Sturz noch schmerzte. Er kannte nur
einen Mann, der über die Macht verfügte, um ihn hier rauszuholen. Kommerzienrat
Vitell. Schon als Otto gegen von Grabows Willen in die Ermittlungen
eingeschaltet worden war, hatte er sich gegen den Kriminaldirigenten
durchgesetzt. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, Vitell eine Nachricht
zukommen zu lassen?
Otto trat an die
Gitterstäbe und sah hinaus. Auf der anderen Gangseite zog nur zwei Zellen von
ihm entfernt ein Wärter langsam seinen Knüppel an den Gitterstäben entlang.
Seine Augen funkelten bösartig. Offenbar machte es ihm Freude, die Häftlinge zu
tyrannisieren, indem er sie nicht schlafen ließ. Was für ein gemeiner Kerl,
dachte Otto. Aber vielleicht ist er ja auch korrupt? In dieser aussichtslosen
Lage musste er jede
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