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Mord unter den Linden (German Edition)

Mord unter den Linden (German Edition)

Titel: Mord unter den Linden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Pieper
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Eindruck, als sei er bereit, sich zu opfern. Abgesehen von ihrer
Verehrung für den Apostel und einer tiefen Gläubigkeit kreist ihr Denken zu
sehr um irdische Dinge.«
    »Hast du dich der
Kreuzigung schon mal von einer anderen Seite genähert?«
    »Wie meinst du
das?«
    »Nun, du hast mir
schon mehrmals erzählt, dass sich in den Taten von Gewaltverbrechern eigene
Erlebnisse widerspiegeln. So sind beispielsweise Eltern, die ihre Kinder zu
Tode prügeln, früher oft selbst schwer misshandelt worden.«
    »Das stimmt wohl,
aber wo siehst du den Zusammenhang?«
    »Soweit ich dich
verstanden habe, misst du der Kreuzigung eine religiöse Bedeutung bei und
suchst dort nach einem Motiv. Vielleicht liegt die Lösung aber in umgekehrter
Richtung, beim Täter nämlich. Du hast doch vorher gesagt, dass es bei dieser
Hinrichtungsart sehr lange dauert, bis der Tod eintritt. Außerdem durchleben
die ans Kreuz Geschlagenen furchtbare Qualen. Ihre Arme und Beine werden
fixiert, und sie können sich nicht mehr bewegen. Früher waren sie dann
schutzlos Angriffen, Beschimpfungen und den Blicken Schaulustiger ausgeliefert.
Möglicherweise hat der Täter in seiner Vergangenheit eine ganz ähnliche
Erfahrung gemacht, bei der er außerdem große Schmerzen erleiden musste.«
    »Ich staune immer
wieder über dich«, sagte der Commissarius, faltete seine Serviette zusammen und
legte sie vor sich hin. Dann erhob er sich von seinem Stuhl und ging um den
Tisch. »Du weißt gar nicht, wie inspirierend unsere Gespräche für mich sind.«
    »Du übertreibst
mal wieder schamlos.«
    »Nein,
keineswegs«, sagte der Commissarius und beugte sich hinab, um seine Großmutter
zu umarmen. Zu seiner Verwunderung griff er ins Leere, und erst jetzt wurde ihm
bewusst, dass das Gespräch nur in seinem Kopf stattgefunden hatte. Er richtete
sich auf und blieb einen Moment stehen. Dann hob er den Blick gegen die
Zimmerdecke und sagte: »Danke.«

Unter den Linden
    Die Verabredung
mit Rieke und vielleicht auch der Schnaps hatten Otto in eine solche
Hochstimmung versetzt, dass er mit seinem Fahrrad auf direktem Weg zur
Schlossbrücke fuhr. Er war sich ganz sicher, dass er der Ordnungsmacht heute
ein Schnippchen schlagen würde. Heute würde er es bis zum Brandenburger Tor
schaffen. Langsam verminderte er das Tempo, setzte schließlich den Fuß auf dem
Bordstein ab und sah sich um. Ein einbeiniger Leierkastenmann spielte einen
Marsch, ein paar Herren schwankten an ihm vorbei, und eine Semmelfrau rief laut
ihre Sonderpreise aus. Nirgends war ein Gendarm zu sehen.
    Was soll mir auch
passieren?, dachte er. Der Kriminaldirigent hat doch nur geblufft. Selbst wenn
sie mich wieder erwischen, wegen einer Ordnungswidrigkeit steckt man einen
angesehenen Bürger wie mich nicht ins Gefängnis, jedenfalls nicht im deutschen
Kaiserreich, wo alles streng nach Vorschriften abläuft. Man würde ihm, wie auch
bisher, eine Geldstrafe aufbrummen – mehr nicht.
    Was konnte er
hingegen gewinnen? Unter den Linden war der ganze Stolz von Berlin. Um den
herrschaftlichen Eindruck nicht zu untergraben, lehnten das Kommissariat für
Fuhrwesen und das Straßen- und Verkehrsamt alle Anträge ab, die Straße für
Radfahrer freizugeben. Für Otto und viele andere Radsportler war diese
Entscheidung nicht nachvollziehbar. Eines war ihnen deswegen klar: Wer
Änderungen bewirken wollte, musste mutig voranschreiten. Schon immer hatte es
Männer gegeben, die die bestehenden Verhältnisse in Frage gestellt und zu
notwendigen Umwälzungen beigetragen hatten. Und Otto wollte einer dieser Män-
ner sein.
    Energisch trat er
in die Pedale, um Fahrt aufzunehmen. Die Droschkenkutscher vor dem Zeughaus
hatten ihn erkannt und traten nun in kleinen Grüppchen auf die Straße. Don
Quichotto oder der schnelle Otto, wie sie ihn nannten, war ihnen kein
Unbekannter. Schon oft hatten sie beobachtet, wie er im Zickzack über die
Straße gerast war. Und ebenso oft hatten sie seine Fahrt mit flotten Sprüchen
begleitet.
    Otto ließ den
Verkehr nicht aus den Augen. Kurz nach dem Denkmal von Friedrich dem Großen
schlängelte er sich zwischen einem offenen Landauer und einem Karren mit
Gurkenfässern hindurch, legte an Fahrt zu und überholte einen Dragoneroffizier
auf seinem Wallach. Die Menschen auf den Bürgersteigen flogen schier an ihm
vorüber. Noch immer war kein Gendarm in Sichtweite.
    Otto wich einem
Schlagloch aus und ließ die Kavalleriekaserne hinter sich. Jetzt lagen nur noch
achthundert Meter vor ihm. Wenn er es

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