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Mord unter den Linden (German Edition)

Mord unter den Linden (German Edition)

Titel: Mord unter den Linden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Pieper
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bis zur Ecke Schadowstraße schaffte, ohne
entdeckt zu werden, hatte er gute Chancen. Denn dann blieb den Gendarmen nicht
genügend Zeit, um sich zu formieren. Ottos Beine pumpten, aber sein Atem ging
gleichmäßig und er fuhr noch schneller. Heute konnte er es schaffen.
    Da schrillte eine
Trillerpfeife.
    Aus den
Augenwinkeln sah Otto einen Gendarm. Er gestikulierte wild und rief »Fahrradf –«. Der Rest wurde vom Fahrtwind verschluckt. Ein zweiter Gendarm – Otto
vermutete ihn auf der anderen Straßenseite – pfiff nun ebenfalls. Gerade hatte
er die Kleine Kirchgasse passiert, jetzt waren es vielleicht noch fünfhundert
Meter. So nahe war er dem Brandenburger Tor bisher nur dreimal gekommen. Scharf
sog er die Luft ein und stellte sich auf. Heute wollte er es schaffen, heute
oder nie wollte er durchs Brandenburger Tor rollen!
    Auf Höhe der
Neustädtischen Kirchstraße rannte ein Zeitungsjunge auf die Straße. Er kreuzte
die Arme in der Luft und schrie: »Ni-hicht, andere Straßenseite! Sperr –«
    Plötzlich sah Otto
vor sich vier Gendarmen, die vor dem Ministerium des Inneren eilends aus
Droschken und Karren eine Art Barrikade errichteten, um ihn zu stoppen. Mit
unvermindertem Tempo hielt er darauf zu und wägte rasch seine Möglichkeiten ab.
Er konnte auf den Mittelstreifen ausweichen, aber dort zwischen den Linden
spazierten vereinzelt Leute. Zu gefährlich. Auf der anderen Straßenseite fuhr
nur ein Fiaker. Aber wenn er jetzt wechselte, blieb den Gendarmen genügend
Zeit, um selbst hinüberzulaufen und sich ihm in den Weg zu stellen. Er musste
also möglichst lange warten.
    Otto ließ sich
nichts anmerken, raste weiter und riss erst auf Höhe der Schadowstraße den
Lenker herum. In halsbrecherischem Tempo legte er sich erst nach links, dann
nach rechts in die Kurve. Jetzt war er auf der Gegenfahrbahn. Aus den
Augenwinkeln konnte er sehen, dass die Gendarmen lachten, ja sie lehnten sich
sogar gegen eine Droschke, als wären sie unbeteiligte Zuschauer. Doch so wie
Otto sie kannte, hatten sie noch eine Überraschung für ihn. Er trat noch fester
in die Pedale. Nur noch zweihundert Meter!
    Als plötzlich zwei
Gendarmen, die sich offenbar hinter einer Linde versteckt hatten, auf die
Straße sprangen, reagierte Otto blitzschnell und schoss links an ihnen vorbei.
Einer bekam noch seinen Jackettzipfel zu fassen. Der Stoff riss, aber aufhalten
konnte er ihn nicht.
    Nun hatte er sein
Ziel beinahe erreicht. In irrsinnigem Tempo näherte er sich einer Equipage, die
vor dem Palais des Grafen von Redern am Bordsteig abgestellt war. Er sah sich
um und rief triumphierend: »Wehe den Besiegten!«
    Als Otto wieder
nach vorn schaute, tauchte hinter der Equipage ein alter Hausdiener auf, der
einen nervösen Windhund an der Leine führte. Der Hund tänzelte auf die
Fahrbahn. Doch die Bremse an Ottos Fahrrad war für solche Vollbremsungen nicht
geschaffen, und das kleine Bremsklötzchen brach, als Otto es von oben auf das
Rad senkte, vom Gestänge.
    Hektisch riss Otto
den Lenker herum, schoss quer über die Fahrbahn und stieß mit voller Wucht
gegen den Bordstein. Er wurde aus dem Sattel katapultiert, drehte sich in der
Luft und prallte hart auf dem Boden auf.
    Ihm blieb die Luft
weg, und es dauerte einen Moment, bis er wieder zu Atem kam. Er war sich nicht
sicher, ob er sich bei dem Sturz verletzt hatte und blieb vorerst liegen. Durch
die Äste der Linden schaute er in den Sternenhimmel. Nach und nach fanden sich
immer mehr Schaulustige ein. Ein Gendarm zwängte sich durch die Menge und
stützte die Hände in die Hüften. »Wenn das nicht Don Quichotto ist«, sagte er.
»Ich soll Ihnen schöne Grüße ausrichten – vom Kriminaldirigenten
höchstpersönlich.«

Wie in Courcelles
    Die schwere
Eichentür war mit Eisen beschlagen. Die Mauern bestanden aus groben Bruchsteinen.
In den Regalen setzten leere Flaschen Staub an. Überall standen marode Fässer,
verrostete Ackergeräte und kaputte Kisten herum. Äußerst detailgetreu hatte er
das Verlies von Courcelles nachgebaut.
    Nackt kauerte er
im schwachen Lichtschein und setzte sich einen Schuss. Nach wenigen Minuten
stellte sich die Wirkung ein und steigerte seine Exaltation. Wie würde es sich
anfühlen, wenn es tatsächlich geschah? Würde es sein wie damals bei dem
zehnjährigen Jungen oder wie bei dem erwachsenen Mann? Oder würde es vollkommen
anders sein, mehr geistiger Natur? Beim letzten Mal hatte er deutlich gespürt,
wie kurz er vor der Schwelle gestanden hatte. Aber

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