Mord unter den Linden (German Edition)
die Hand und
winkte.
Plötzlich begriff
Otto, dass dieser Besuch eine reine Machtdemonstration gewesen war. Auch wenn
die Formalitäten sofort erledigt werden könnten, würde ihn der Kriminaldirigent
niemals so schnell laufen lassen. Ihm ging es darum, Otto einen Denkzettel zu verpassen.
In der Potsdamer Straße
Der Commissarius
öffnete die Augen und starrte an die Decke. Er hatte ein Geräusch gehört, das
laut genug gewesen war, um ihn aus einem tiefen Schlaf zu reißen. War der Krach
von draußen oder aus seiner Wohnung gekommen? Hatte sich möglicherweise ein
Einbrecher Zutritt verschafft? Stand er vielleicht schon hier bei ihm im
Zimmer? Funke stellte sich schlafend, blieb bewegungslos liegen und vermied
jedes Rascheln mit dem Bettzeug. Mit klopfendem Herzen lauschte er in die
Dunkelheit, hörte aber nur das leise Summen eines Insekts.
Nach bangen
Minuten war der Commissarius davon überzeugt, dass er allein war. Genauso
sicher war er sich allerdings, dass er sich das Geräusch nicht eingebildet
hatte. Also entschied er, nachzusehen, was ihn geweckt hatte. Er wartete, bis
sich sein Puls wieder normalisiert hatte. Dann schlug er die Decke zurück und
machte Licht. Er schlüpfte in seine weichen marokkanischen Babouchen und ging
zu den Fenstern. Wegen der hohen Temperaturen standen sie zwar weit offen, aber
die Flügel waren so arretiert, dass sie nicht vom Wind bewegt werden konnten.
Von hier konnte das Geräusch nicht gekommen sein.
Der Commissarius
begab sich auf einen Rundgang durch seine Wohnung, doch konnte er nirgends
etwas Ungewöhnliches feststellen. Dann blickte er aus den Fenstern. Vielleicht
hatte sich im Hinterhof oder auf der Straße ein übermütiger Trunkenbold einen
Scherz erlaubt? Aber er konnte keine Menschenseele entdecken.
Als der
Commissarius sich schon zurück ins Bett begeben wollte, fiel ihm ein, dass das
Geräusch auch aus dem Treppenhaus hätte kommen können. Er öffnete die Haustür
und spähte nach draußen. Da, an der Eingangstür der gegenüberliegenden Wohnung,
wo ein hochrangiger Kollege, der Leiter der politischen Polizei, lebte, lehnte
ein runder Gegenstand.
Stirnrunzelnd trat
der Commissarius in den Flur und beugte sich hinunter. Es handelte sich um
einen Trauerkranz, wie man ihn normalerweise auf ein Grab legt. Eine große rote
Schleife zierte ihn. Auf dem linken Band stand: »Wir vergessen dich nicht!« und
auf dem rechten: »Deine sozialistischen Freunde«. An einem Draht hing eine
Grußkarte mit einer handschriftlichen Nachricht: »Wenn noch eine Frau
gekreuzigt wird, bist du dran. Mach endlich anständige Polizeiarbeit und hör
auf, uns nachzuspionieren.« Es folgten einige Noten und ein Notenschlüssel
sowie ein bekanntes Trinklied: »Stiefel muss sterben, / Ist noch so jung, jung,
jung, / Stiefel muss sterben, / Ist noch so jung!«
Der Commissarius
richtete sich auf und setzte seine Nachtmütze ab, um sich den Schädel zu
kratzen. Als er am Abend nach Hause gekommen war, war der Trauerkranz noch
nicht hier gewesen. Er musste also erst später gebracht worden sein.
Die Botschaft war
klar: Der Leiter der politischen Polizei wurde mit dem Tod bedroht. Dabei war
die Farbe der Grabschleife offenbar mit Bedacht gewählt worden. Rot stand für
die Arbeiterbewegung. Ebenso war das Trinklied ein aufschlussreiches Indiz. Es
war allgemein bekannt, dass der berüchtigte Anarchist August Reinsdorf es kurz
vor seiner Enthauptung gesungen hatte. Ein weiterer Anarchist, der
zweiundzwanzigjährige Schuhmachergeselle Julius Adolf Lieske, hatte Reinsdorf
rächen wollen und den Leiter der politischen Polizei in Frankfurt erstochen.
Jener hatte die politischen Feinde des Kaiserreichs mit der gleichen
Rigorosität verfolgt wie der Nachbar des Commissarius. Der Mann schwebte also
in Lebensgefahr.
Trotzdem, etwas
stimmte nicht, wie schon Dr. Sanftleben nach dem Anschlag auf das Schöneberger
Nationaldenkmal aufgefallen war. Für die Anarchisten war Politik bürgerlich und
führte die Arbeiterschaft in die Bevormundung durch eine Handvoll Abgeordneter.
In ihren Augen war der Reichstag nur eine »Bedientenbude«, die sich selbst viel
zu wichtig nahm. Um die Freiheit und Gleichheit aller Menschen zu erreichen,
war es ihrer Meinung nach erforderlich, alle politischen Instanzen zu
zerschlagen. Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands lehnte hingegen
Gewalt strikt ab. Für sie war es undenkbar, dass eine Partei, welche die
Verbrüderung aller Menschen anstrebte, ihr Ziel mit Hilfe
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