Mord unter den Linden (German Edition)
eines Bürgerkrieges
erreichen sollte, bei dem sich Verwandte und Nachbarn gegenseitig töteten. Die
Feindschaft zwischen den beiden Lagern reichte so weit, dass sie sich jahrelang
in den Zeitungen »Der Sozialdemokrat« und »Die Freiheit« gegenseitig denunziert
hatten, was der politischen Polizei viele brauchbare Hinweise gegeben hatte.
Vor diesem Hintergrund erschien es dem Commissarius beinahe ausgeschlossen,
dass sich der Absender des Trauerkranzes einerseits durch die Taten bekannter
Anarchisten inspirieren ließ und sich andererseits den »sozialistischen
Freunden« zugehörig fühlte. Was also sollte das alles?
Noch während er
über den ominösen Kranz nachdachte, hörte Funke Schritte auf der Treppe. Kam
derjenige zurück, der den Kranz gebracht hatte? Einem ersten Impuls folgend,
wollte der Commissarius in seine Wohnung rennen, um seinen Revolver zu holen,
doch dann besann er sich. Es war nahezu ausgeschlossen, dass der Täter schon
zurückkehrte. Schließlich hatte seine Drohung das potenzielle Opfer noch nicht
einmal erreicht.
Da tauchte im
Treppenhaus eine schlanke Gestalt auf, die keinen Kopf hatte. Vor Schreck riss
der Commissarius die Augen weit auf, und es dauerte einige Augenblicke, ehe er
seinen Irrtum erkannte. Natürlich hatte der junge Mann ein Gesicht, aber wegen
seiner dunklen Hautfarbe und dem schwarzen, krausen Haar war es in der
schummrigen Treppenhausbeleuchtung kaum zu erkennen gewesen. In seinem ganzen
Leben hatte der Commissarius vielleicht fünf oder sechs Neger gesehen, die im
Zirkus, auf dem Jahrmarkt, im Varieté oder in einer Völkerschau aufgetreten
waren. Sie hatten als Attraktionen gegolten und waren von Schaulustigen begafft
worden. Er hätte es niemals für möglich gehalten, eines Tages einem von ihnen
plötzlich in seinem Treppenhaus gegenüberzustehen.
Der junge Mann war
die Reaktion offenbar gewohnt, denn er stellte sich rasch vor: »Ich bin Moses,
der Leibdiener von Dr. Otto Sanftleben, und suche einen Herrn Commissarius
Funke. Sind Sie das?«
Der Commissarius
wunderte sich sehr, dass der Mohr die deutsche Sprache besser beherrschte als
die meisten Berliner. »Äh, ja«, sagte er unsicher.
»Mein Dienstherr
hat mir von Ihnen berichtet. Sie sind der einzige Polizist, den ich kenne. Ich
habe Ihre Adresse aus dem Bürgerverzeichnis. Übrigens, da unten stimmt etwas
nicht. Die Haustür wurde aufgebrochen. Deshalb konnte ich einfach so reinkom-
men.«
Das erklärt den
Krach, der mich aus dem Schlaf gerissen hat, dachte der Commissarius und sagte:
»Das werde ich mir gleich näher ansehen. Aber was kann ich für dich tun?«
Moses berichtete,
dass er gestern Abend mit dem Gepäck für die Reise zum Meisterschaftsfahren in
München zum Haus von Ottos Eltern in der Innenstadt gefahren war. Anschließend
hatte er Unter den Linden spazieren gehen wollen. Allerdings war er nicht weit
gekommen, denn in der Nähe des Pariser Platzes war ihm ein Menschenauflauf
aufgefallen. Er war hinübergegangen und hatte sich unter die Leute gemischt. So
hatte er sehen können, wie seinem Herrn Handfesseln angelegt worden waren und
er in eine Grüne Minna gestoßen worden war. Er vermutete, dass Otto auf der
Paradestraße Fahrrad gefahren und deshalb inhaftiert worden war. Morgen
allerdings musste, so endete Moses schließlich, sein Herr unbedingt den Zug
nach München erreichen, um am Meisterschaftsfahren von Deutschland
teilzunehmen.
»Und jetzt glaubst
du«, sagte der Commissarius, als Moses geendet hatte, »dass ich meinen Einfluss
geltend machen kann, um Dr. Sanftleben aus dem Gefängnis zu befreien.«
»So ist es«,
erwiderte der Leibdiener.
»Freu dich nicht
zu früh«, sagte Funke und dachte angestrengt nach. Nur sein unmittelbarer
Vorgesetzter, Kriminaldirigent von Grabow, konnte den Gefangenen entlassen.
Allerdings war es wohl seiner Einflussnahme zuzuschreiben, dass Dr. Sanftleben
überhaupt im Gefängnis gelandet war. Nein, wenn jemand etwas für den
Kriminalgelehrten tun konnte, dann war es Kommerzienrat Vitell. Schließlich
hatte er mit dem Einverständnis seines persönlichen Freundes, des Polizeipräsidenten
von Berlin, auch erreicht, dass Dr. Sanftleben zu den Ermittlungen in Sachen
Kreuzigung herangezogen worden war.
»Vielleicht kenne
ich jemanden, der uns helfen kann. Wir werden ihm noch heute Nacht einen Besuch
abstatten, aber jetzt komm erst einmal herein«, sagte der Commissarius und wies
auf seine Wohnungstür. Dabei fiel sein Blick auf seine linke Hand, in
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