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Mord unter den Linden (German Edition)

Mord unter den Linden (German Edition)

Titel: Mord unter den Linden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Pieper
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der er
immer noch seine Nachtmütze hielt. Erschrocken fasste er sich an den Kopf.
Natürlich hatte er seine Perücke nicht aufgesetzt. So hatte der schwarze Diener
gesehen, was sonst niemand sehen durfte. Möglicherweise erzählte er seinem
Dienstherrn von Funkes Glatze. Eilig huschte der Commissarius an Moses vorbei
und murmelte dabei: »Warte in der Diele. Ich kleide mich rasch an.«

Auf dem Weg nach München
    Am nächsten Morgen
nahm Otto am Rande seines Bewusstseins eine Bewegung wahr und spürte, wie
jemand an seinem Arm rüttelte. Verschlafen drehte er den Kopf auf die Seite und
schlug die Augen auf. »Moses?«, fragte er.
    »Wer sonst?«,
erwiderte sein Leibdiener. »Nun komm schon! Wenn wir den Zug noch erreichen
wollen, müssen wir uns beeilen.«
    Otto setzte die
Füße auf den kalten Steinboden und massierte sich den Nacken. Nach und nach
erinnerte er sich, wo er war und wie er hierhergekommen war. Dann sprang er auf
und folgte Moses auf den Zellengang. In wenigen Minuten hatte er alle
Formalitäten erledigt und das Gefängnis verlassen. Draußen auf dem
Alexanderplatz herrschte reger Verkehr, und ein Pferdeomnibus bimmelte laut.
Moses lotste Otto zu einer bereitstehenden Galadroschke, und beide kletterten
in die offene Kabine, wo bereits Kommerzienrat Vitell saß. Otto ergriff die
Hand des Geschäftsmannes und schüttelte sie ausgiebig. »Ich danke Ihnen
vielmals. Sie ahnen nicht, wie viel es mir bedeutet, am Meisterschaftsfahren
teilzunehmen.«
    Vitell trug einen
leichten italienischen Anzug und einen Panamahut, der sein Gesicht vor der
Sonne schützte. »Gern geschehen«, erwiderte er freundlich. »Und außerdem: Sie
müssen wissen, dass im Club Wetten auf die Rennen abgeschlossen werden. Ich
habe auf Sie gesetzt. Und wenn Sie nicht teilnehmen, verliere ich eine Menge
Geld. Ich handele also aus vollkommen eigennützigen Motiven.« Er wandte sich an
den Kutscher: »Zum Anhalter Bahnhof.«
    Der Mann hat ein
Herz aus Gold, dachte Otto. Als die Pferde lostrabten, lehnte er sich auf der
gepolsterten Sitzbank zurück. Neugierig beäugte er seinen Leibdiener. »Nun
erzähl schon! Was hat der Gefängniswärter gesagt?«
    »Welcher
Gefängniswärter?«, fragte Moses.
    Dann berichtete
der Leibdiener, was sich letzte Nacht zugetragen hatte. Gerührt erkannte Otto,
dass er seine Freiheit keinem korrupten Staatsdiener verdankte, sondern einem
simplen Zufall – und vor allem den Menschen in seiner Umgebung. Sie hatten
nicht einmal eine Aufforderung gebraucht, um ihn aus dem Gefängnis zu befreien.
Aus eigenem Antrieb hatten sie nach Wegen gesucht, um seine Teilnahme am
Meisterschaftsrennen zu ermöglichen. Dankbar klopfte er Moses auf die Schulter
und sagte zum Kommerzienrat: »Ich hoffe, dass ich mich eines Tages bei Ihnen
und Commissarius Funke revanchieren kann.«
    Vitell tupfte
seinen Hals, seinen Nacken und sein Gesicht mit einem Taschentuch ab und sagte:
»Da wüsste ich schon eine Möglichkeit. Der Commissarius hat mich nämlich
gebeten, Sie nach Ihrer Meinung zu den neuesten Ereignissen zu fragen.«
    »Was ist denn
passiert?«
    »Ein hochrangiger
Beamter der politischen Polizei wird bedroht. Offenbar steckt das gleiche
subversive Subjekt dahinter, das schon den Anschlag auf das Schöneberger
Nationaldenkmal durchgeführt hat.«
    »Was veranlasst
Sie zu dieser Annahme?«
    »Wieder hat er
sich an eine bekannte Tageszeitung gewandt und so dafür gesorgt, dass sein
Treiben einem großen Leserkreis bekannt wird. Und wieder hat er in seinem
Bekennerschreiben auf die Kreuzigung im Friedrichshain angespielt.«
    »Jetzt verstehe
ich das Interesse des Commissarius. Und inwiefern kann ich behilflich sein?«
    »Nun, Funke ist
ganz angetan von den scharfsinnigen Überlegungen, die Sie spontan zum Anschlag
auf das Nationaldenkmal angestellt haben. Er bittet Sie einfach, Ihren Gedanken
freien Lauf zu lassen. Ich werde ihm dann bei der nächsten Gelegenheit Bericht
erstatten.«
    Otto ließ sich den
genauen Wortlaut der Nachricht am Trauerkranz vorlesen und dachte einen Moment
nach. »Als Erstes stellt sich mir die Frage, warum der Täter überhaupt die
Kreuzigung erwähnt.«
    »Weil sie in aller
Munde ist«, sagte Vitell. »Wahrscheinlich erhofft er sich eine größere
Aufmerksamkeit für seine Taten.«
    »Das könnte
natürlich sein«, erwiderte Otto, »aber ein anderer Grund scheint mir noch
plausibler. Die Kreuzigung im Friedrichshain wurde von allen Berlinern aufs
Schärfste verurteilt. Nun entlarvt der Täter zwar

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