Mord unter den Linden (German Edition)
lachte. »Was
macht man den ganzen Tag an Bord? So eingepfercht muss einem doch langweilig
werden.«
»Man gewöhnt sich
an alles. Um halb acht bekamen wir eine schöne Tasse Tee ans Bett. Um halb neun
ging es zum Frühstück. Eigentlich ist die englische Küche nicht mein Geschmack,
aber der Smutje verstand sein Handwerk. Wer Lust hatte, hielt hinterher ein
Verdauungsschläfchen. Die anderen spielten Schach, promenierten an Deck, lasen,
unterhielten sich oder faulenzten. Um ein Uhr läutete die Tischglocke zum
Lunch. Danach nahmen wir ein geistiges Getränk zu uns und rauchten eine
Zigarre. Um fünf wurden wir zu einem Nachmittagsimbiss gerufen, der sich meist
aus geräuchertem Fisch, kalten Bratenscheiben und –«
»So viel Essen!
Die Überfahrt muss ganz schön teuer sein.«
»Wie man's nimmt.
Bis Kapstadt zahlt man, wenn ich mich recht erinnere, für eine Kajüte in der
ersten Klasse sechshundertneunzig Mark und in der dritten Klasse
zweihundertachtzig Mark. Darin enthalten sind die Verköstigung und zwanzig
Kubikfuß Freigepäck.«
»Das ist sehr viel
Geld.« Rieke schaute gedankenversunken aufs Wasser. Dann drehte sie den Kopf
erneut zu Otto. »Und bist du seekrank geworden?«
»Mein Magen hält
einiges aus, aber manche Passagiere mussten eine Morphiumlösung einnehmen, um
die Reise irgendwie zu überstehen.«
»Apropos Magen.«
Rieke beugte sich zu dem Weidenkorb hinab und schlug das Tuch zurück. »Ich hab
uns was mitgebracht.«
Otto sah eine
Mettwurst, geräucherten Aal, ein großes Stück Butterkäse, Landbrot, Weintrauben
und zwei Flaschen Bier. Seitdem das Meisterschaftsfahren vorüber war und er
nicht mehr Diät halten musste, holte er alles nach. Sein Appetit war
unersättlich, und obwohl er üppig gefrühstückt hatte – es hatte Pfannkuchen mit
Johannisbeermarmelade gegeben –, lief ihm das Wasser im Mund zusammen.
Plötzlich ging ihm auf, mit wie viel Sorgfalt Rieke den Ausflug vorbereitet
hatte. Wahrscheinlich hatte sie sich Gedanken gemacht, was ihm schmecken würde,
und in Unkosten hatte sie sich auch gestürzt. Und das, obwohl sie doch so wenig
Geld hatte. Eine Welle der Zärtlichkeit ergriff ihn, und am liebsten hätte er
sie in den Arm genommen.
Rieke hatte
bereits die Mettwurst aufgeschnitten und hielt ihm eine dicke Scheibe hin.
Otto nahm sie und
sagte: »Am kommenden Samstag feiere ich übrigens meinen Geburtstag. Ich würde
mich sehr freuen, wenn du auch kommen könntest.«
»Vielen Dank für
die Einladung«, sagte Rieke, »aber es geht leider nicht. Ich hab eine
Aufführung.«
»Dann komm
hinterher. Es reicht, wenn du bis Mitternacht da bist.«
»Meinst du
wirklich?«
»Und ob! Wenn du
willst, spreche ich noch heute mit deinem Vater.«
»Lieber nicht«,
sagte Rieke. Ihr Blick verdüsterte sich. Sie wollte noch etwas hinzufügen,
unterließ es dann aber und schaute zum Ufer. Lachend deutete sie auf einen
Steg, und nun sah auch Otto, wie ein Junge, von seinen Freunden angefeuert,
sich die Nase zuhielt, über den klapprigen Bootsanleger rannte und mit einem
weiten Satz in die Spree sprang. Offenbar handelte es sich um eine Mutprobe,
denn sein Sprung wurde mit lautem Jubel quittiert. Nachdem er wieder
aufgetaucht war, ruderte er wild mit den Armen, um wieder an Land zu schwimmen,
und Wasserfontänen spritzten in die Höhe.
»Weißt du was?«,
sagte Rieke. »Ich komme einfach und meinem Vater sag ich nichts.«
»Wirklich?«,
fragte Otto. »Das wäre großartig!«
Gegenseitig
beteuerten sie sich ein Dutzend Mal, wie sehr sie sich freuten und wie gespannt
sie auf den Abend waren. Nachdem sie Riekes Weidenkorb reichlich geplündert
hatten, sank Otto satt, glücklich und erschöpft zurück. Rieke lehnte ihren Kopf
an seine Schulter, als wäre es das Natürlichste auf der Welt. Otto blickte auf
ihren Scheitel und konnte nicht anders, als sanft über ihr Haar zu streichen.
Rieke ließ es sich gefallen und seufzte leise. Schon bei ihrem ersten Treffen
im Polizeipräsidium hatte Otto gespürt, dass zwischen ihnen etwas Besonderes
war. Sie empfanden offenbar das Gleiche füreinander, ein tiefes, starkes
Gefühl, das man nicht mit Worten beschreiben konnte. Behutsam legte er einen
Arm um ihre Schulter und drückte sie leicht an sich.
So glitten sie
durch die Flusslandschaft und passierten Trauerweiden, Torfkähne und Angler.
Vom Anlegemanöver beim Eierhäuschen, einem beliebten Ausflugslokal, und den
ein- und aussteigenden Passagieren bekam Otto kaum etwas mit. Er kam sich vor
wie
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