Mord unter den Linden (German Edition)
standen Töpfe mit gelben und violetten Stiefmütterchen, daneben
befand sich eine bleierne Gießkanne. An der Wand hinter dem Schreibtisch hing
ein Bild von einer Kompanie unter einer Reichsfahne, darüber stand in
geschwungenen Lettern: »Zur Erinnerung an den deutschen Sieg 1870/71«. Auf dem
Schreibtisch stand ein Tintenfass aus schwarzem Marmor, daneben lagen Griffel
und Papier. Auch eine kleine Zeichnung sah Otto. Er beugte sich vor, um sie in
Augenschein zu nehmen. Er sah Bäume und einen jungen Mann, der am Geländer
einer Brücke lehnte und in einen Bach schaute. Der Jüngling wirkte, als hätte
er die Welt ringsum vergessen.
Der Commissarius
kehrte zurück. Er lächelte, als er bemerkte, dass Otto die Zeichnung
betrachtete. Während er ein Glas und eine Karaffe abstellte, sagte er: »Früher
hab ich Naturstudien betrieben. Vögel vor allem und Pflanzen. Heute schleichen
sich immer öfter Menschen in meine Bilder. Ich weiß auch nicht, warum.«
Otto nickte nur.
Er verstand nicht viel von Malerei und konnte nichts zum Thema beitragen. Er
trank das Glas in einem Zug leer. Dann deutete er neugierig auf das Bild der
Kompanie. »Sie waren bei den Dragonern?«
Der Commissarius
drehte den Kopf und betrachtete das Bild, als sähe er es zum ersten Mal. »Das
ist lange her.« Seine Stimme hatte eine andere Färbung. Sie klang jetzt weniger
singend als sonst, sondern geradliniger und schärfer. »Nach dem Feldzug
siebzig/einundsiebzig hab ich den Dienst quittiert und bei der Berliner
Schutzmannschaft angefangen. Zwei Jahre später hab ich mich hierher versetzen
lassen.«
»Waren Sie in der
kämpfenden Truppe?«
»1864 gegen die
Dänen, 1866 Königgrätz und zuletzt gegen die Franzosen. Insgesamt vier
Verwundungen, einmal schwer durch ein Schrapnell.«
»Wie kann ein Mann
mit so viel Kampferfahrung das Heer verlassen?«
»An mir lag es
nicht, mein Lieber. Aber ich hege keinen Groll gegen das Militär. Mein Abschied
geschah im gegenseitigen Einvernehmen nach einer … pikanten Angelegenheit.«
Nachdenklich
betrachtete Otto den Commissarius. Sein Gehrock war nach der neuesten
Sommermode geschneidert: leicht tailliert und aus einem changierenden
Wollstoff. Farblich war alles perfekt auf seine blauschwarze Perücke
abgestimmt. Dass ein Mann, der so viel Wert auf seine äußere Erscheinung legte,
dreck- und blutbespritzt im Gefecht voranstürmte, war nur schwer vorstellbar.
Andererseits war er nun Polizist. Tagtäglich beschäftigte er sich mit der
Aufklärung von Gewaltverbrechen. Er hatte Umgang mit dem Abschaum der
Menschheit. Häufig musste er verstümmelte Leichname begutachten und brutale
Verbrecher dingfest machen. Das alles wollte ebenfalls nicht so recht zu einem
feinsinnigen Maler passen. Offenbar war auch der Commissarius ein äußerst
vielschichtiger Charakter. Aber eigentlich ging ihn das alles nichts an, und
Otto war nicht hierhergekommen, um den Commissarius näher kennenzulernen. Er
räusperte sich und sagte: »Ich habe wichtige Informationen, die den
Kreuzigungsfall betreffen. Fräulein Dürr hat mir erzählt, dass sie während des
Verhörs in zwei entscheidenden Punkten von der Wahrheit abgewichen ist.«
»Sie haben mit
Fräulein Dürr gesprochen? Wann? Und wieso?«
»Sie hat mir eine
Nachricht zukommen lassen und um ein Treffen gebeten.« Das stimmt sogar, dachte
Otto und hoffte, er würde die beiden anderen Treffen mit Rieke nicht erwähnen
müssen.
»Verständlich! Wahrscheinlich
hätte ich mich an ihrer Stelle auch an Sie gewandt. Sie sind kein Polizist, und
Sie haben eine so beruhigende Art.«
»Zuerst möchte ich
klarstellen, dass Fräulein Dürr nicht die Unwahrheit gesagt hat, weil sie die
Ermittlung behindern wollte, sondern weil sie Angst hatte. Wenn ich meine
Ausführungen beendet habe, werden Sie sie verstehen. Als Sie Fräulein Dürr
fragten, ob Fräulein Krause ein Verhältnis gehabt habe, verneinte sie. Das traf
auch viele Jahre zu. In der Schule, in der Nachbarschaft und später an ihrem
Arbeitsplatz galt Elvira Krause als ausgesprochen züchtig. Einladungen von
Männern lehnte sie kategorisch ab. Dann lernte sie jedoch in der Apostolischen
Gemeinde jemanden kennen, der ihr Vertrauen gewinnen konnte. Er verstand es
wohl, sich bei ihr einzuschmeicheln. Und als er ihr die Ehe versprach, erlaubte
sie ihm gewisse … Intimitäten.«
»Sie können ganz
ungeniert sprechen, mein Lieber. Was meinen Sie konkret?«
»Nun, sie erlaubte
ihm, Nacktfotografien von ihr anzufertigen. Als sie
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