Mord unter den Linden (German Edition)
Generalabnehmervertrag.«
»Ich verstehe, und
ich verspreche, dass ich Ihre Zeit nicht länger als nötig in Anspruch nehmen
werde.« Otto fasste seinen Bericht so kurz wie möglich und erzählte von den
neuen Erkenntnissen. Als er zum Ende gekommen war, sah Vitell ihn scharf an und
fragte: »Und was wollen Sie von mir?«
»Sie sind ein
persönlicher Freund des Polizeipräsidenten. Vielleicht könnten Sie einen Termin
arrangieren, bei dem Commissarius Funke und ich ihn von der Notwendigkeit einer
Hausdurchsuchung überzeugen könnten. Alles müsste natürlich sehr diskret
vonstattengehen.«
»Ich soll Ihnen
also Schützenhilfe geben. Sind Sie sich absolut sicher, dass Kriminaldirigent
von Grabow in die Sache verwickelt ist? Ich frage Sie das nur einmal, und ich
will eine ehrliche Antwort von Ihnen.«
»Ich habe nicht
den geringsten Zweifel.«
»Gut«, sagte
Vitell. »Dann halten Sie sich bereit. Ich werde noch heute ein Treffen
arrangieren.«
Im Büro des Polizeipräsidenten
Was überlegt er so
lange?, dachte Otto. Der Fall liegt doch klar auf der Hand. Ungeduldig
betrachtete er die Porträts der früheren Polizeipräsidenten an der Wand. In
goldenen Barockrahmen hingen da von Hinckeldey und von Zedlitz-Neukirch, von
Winter und von Bernuth, von Wurmb und schließlich von Madai.
Bernhard Freiherr
von Richthofen übte das Amt seit 1885 aus. Sowohl in der Politik als auch in
der Verwaltung genoss er wegen seiner diplomatischen Fähigkeiten einen
ausgezeichneten Ruf. Es war allgemein bekannt, dass er Entscheidungen erst nach
reiflicher Überlegung traf. Und auch jetzt ließ er sich Zeit. Hinter seinem
prunkvollen Mahagonischreibtisch sitzend, stützte er seine Ellenbogen auf den
Armlehnen des Lederstuhls ab und legte die Fingerspitzen aneinander. Nachdenklich
betrachtete er Otto und Commissarius Funke. Nur das nervöse Klopfen von Ottos
Stiefel auf dem Parkettboden durchbrach die Stille.
Endlich beugte
sich der Polizeipräsident nach vorn und sagte: »Sie, Commissarius Funke, haben
den Fall schlüssig vorgetragen. Was mich jetzt noch interessieren würde, ist
Ihre Einschätzung als Kriminologe und Arzt, Herr Dr. Sanftleben. Soweit ich
weiß, waren Sie in der Charité unter anderem in der Irrenabteilung beschäftigt
und haben Studien betrieben zu Verbrechen und Wahnsinn. Leidet der
Kriminaldirigent Ihrer Meinung nach an einer krankhaften Störung und wenn ja,
an welcher?«
Otto dachte kurz
nach. Er musste sein Urteil über den Kriminaldirigenten ganz in die Sprache der
Wissenschaft kleiden, um von seiner persönlichen Abneigung abzulenken. Nur so
würde er die Autorität eines Experten ausstrahlen und die Zweifel des
Polizeipräsidenten zerstreuen.
»Ich bin mir nicht
sicher«, sagte er langsam, »aber vorausgesetzt, dass eine Störung vorliegt,
könnten wir es hier mit einem Fall von religiösem Wahnsinn zu tun haben.
Studien belegen, dass diese Form der Geisteskrankheit besonders häufig bei
Fanatikern mit einer Veranlagung zur Hysterie auftritt. Dabei entspricht die
Intensität der Abnormität dem Ausmaß der Reizbarkeit. Besonders oft tritt diese
Form der Geisteskrankheit in Sekten auf, wenn sich der Wahn der Mitglieder
gegenseitig verstärkt.«
»Wie stehen Sie zu
der Auffassung von Kirchenkreisen«, fragte der Polizeipräsident, »dass der
religiöse Wahnsinn durch Dämonen ausgelöst wird und dass die Irren Besessene
sind, die unter dem Einfluss der Sünde stehen?«
Otto betrachtete
das große silberne Kruzifix, das neben den Porträts an der Wand hing. »Bei
allem Respekt, Herr Polizeipräsident, Dämonen sind nicht nachweisbar. Die
Annahme ihrer Existenz führt bekanntlich zu höchst unwissenschaftlichen
Behandlungsmethoden. Denken Sie nur an Exorzismen und Hexenpro- zesse.«
»Dann erklären Sie
mir bitte, was einen mehrfachen Familienvater, einen Mann von außerordentlichen
Fähigkeiten zu solchen Verbrechen getrieben haben könnte.«
»Ihre Frage ist
berechtigt. Auch ist mir bewusst, dass religiöser Wahnsinn in einfachen
Bevölkerungsschichten weitaus häufiger auftritt als in den gehobenen Kreisen,
wo die Menschen zumeist über eine umfassende Bildung verfügen, sodass sie sich
mit wundersamen Erscheinungen und Prophezeiungen kritisch auseinandersetzen
können. Außerdem verfügen sie in der Regel über eine größere Moral, die sie vor
strafbaren Handlungen bewahrt. Trotzdem gibt es Anhaltspunkte, die auf eine Erkrankung
des Kriminaldirigenten hindeuten. Ich möchte jedoch zu bedenken geben,
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