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Mord unter den Linden (German Edition)

Mord unter den Linden (German Edition)

Titel: Mord unter den Linden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Pieper
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dass ich
keine Diagnose stellen kann, ohne intensive Gespräche mit von Grabow geführt zu
haben. Deshalb ist mein Urteil rein spekulativ.«
    »Verstehe. Aber
was sind das nun für Anhaltspunkte?«
    »Der
Kriminaldirigent scheint ein außerordentlich vielschichtiger und extremer
Charakter zu sein. Auf der einen Seite gibt er sich seit jungen Jahren mit
Scharlatanen und falschen Propheten ab, auf der anderen Seite schloss er dank
seiner Intelligenz und seines Ehrgeizes sein Studium glänzend ab und hat eine
bemerkenswerte Karriere hinter sich. Von Grabow ist streng protestantisch,
zugleich bricht er die Zehn Gebote serienweise. Eine solche Disposition kann
nur durch ein überragendes Selbstbewusstsein zusammengehalten werden. Im Laufe
der Jahre muss er sich immer mehr Regeln auferlegt haben, die sich – aufgrund
der religiösen Einflüsse – zu einem fanatischen Wahnsystem gesteigert haben.
Hochintelligent wie er ist, erkannte von Grabow, dass er sich immer wieder aufs
Neue als unwürdig erwies, und so stiegen die Schuld und der Selbsthass ins
Unermessliche. Längst überforderten ihn seine Regeln. Um trotzdem weiterleben
zu können, übertrug er seine eigenen Sünden auf andere. Die fanatische Verfolgung
von Abweichlern und seine moralisierenden Reden sind möglicherweise ein Indiz
dafür. Einfacher ausgedrückt: Er bekämpft offenbar andere, um sich selbst zu
bekämpfen.«
    »Wollen Sie damit
sagen, dass er die beiden Frauen kreuzigte, um sich selbst zu bestrafen?«
    »Nein, so konkret
keineswegs. Ich wollte nur andeuten, dass die Grenzen zwischen exaltierter
Frömmigkeit und Wahnsinn verschwimmen können. Was einen Irren dazu getrieben
hat, dieses oder jenes zu tun, kann nur er selbst beantworten.«
    Nachdenkliches Schweigen
senkte sich über den Raum.
    Otto rutschte auf
seinem Stuhl hin und her. Die wissenschaftliche Untersuchung des menschlichen
Geistes steckte noch in den Kinderschuhen. Viele Vertreter der Polizei standen
ihr skeptisch gegenüber. Er konnte nicht einschätzen, wie der Polizeipräsident
auf seine Ausführungen reagieren würde.
    »Vielleicht ist
alles auch viel einfacher«, gab jetzt der Commissarius zu bedenken. »Vielleicht
haben wir es mit einem gewöhnlichen, leicht erregbaren Verbrecher zu tun, der
Angst vor der Aufdeckung seiner Machenschaften hatte und deswegen mordete.«
    Der
Polizeipräsident stützte seine Ellenbogen wieder auf den Armlehnen ab, legte
die Fingerspitzen aneinander und dachte nach.
     
    Zwei Stunden
später holperten zwei schwarze Polizeikutschen durch den dunklen Tiergarten
Richtung Charlottenburg. Mittlerweile war es später Abend. Im vorderen Wagen
saßen Commissarius Funke, Kommerzienrat Vitell, Otto und Stresow, ein
Schutzmann mit einem Tomatengesicht.
    Der Commissarius
reichte Otto den Durchsuchungsbefehl und sagte: »Hier, wenn Sie bitte
unterzeichnen würden.«
    Otto nahm das
amtliche Schriftstück entgegen und las, was von Richthofen angeordnet hatte.
     
     
    Durchsuchungsbefehl
    Berlin, den 6.
August 1890
    Auf Anordnung des
Herrn Polizeipräsidenten Freiherr von Richthofen als Hilfsbeamten der
Staatsanwaltschaft wurde, weil Gefahr im Verzuge war, heute um … in den
Wohnräumen des Herrn Kriminaldirigenten Kurt von Grabow, geb. am 2.11.1825 in
Greifswald, eine Hausdurchsuchung vorgenommen.
    Der Durchsuchung
wohnten bei (Unterschriften):
    1.
Kriminalkommissar Funke
    2.
Kriminalpolizeiwachtmeister Holle
    3.
Kriminalschutzmann Stresow
    4.
Kriminalschutzmann Beckmann
    5.
Kriminalschutzmann Müller
    6.
Kriminalschutzmann Zacher
    7. Herr Dr.
Sanftleben
    8. Herr
Kommerzienrat Vitell
    Es wurden die
umstehend bezeichneten Gegenstände, welche als Beweismittel für die
Untersuchung von Bedeutung sein können und der Einziehung unterliegen,
vorgefunden …
     
    Otto setzte seine
Unterschrift neben seinen Namen, reichte das Dokument weiter und sah durch das
Fenster nach draußen. Seine Gedanken kreisten schnell wieder um den
Kriminaldirigenten. Was würde dieser Ehrenmann wohl für ein Gesicht machen,
wenn der »Querulant« in Begleitung der Staatsmacht kam, um sein Haus zu
durchsuchen?
    »Welches Haaröl
benutzen Sie eigentlich, mein Lieber?«, fragte der Commissarius und riss Otto
aus seinen Überlegungen. Doch die Frage war nicht an ihn, sondern an
Kommerzienrat Vitell gerichtet, der sich tiefer in seine Ecke der Kutsche
drückte. Offenbar behagte ihm die Frage nicht.
    »Makassaröl«,
antwortete er knapp.
    »Das ist ja
interessant«, sagte der Commissarius. »Ich hab

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