Mord unter den Linden (German Edition)
Widerspruch in ihrer Nachricht: Einerseits nannte sie ihn »Geliebter«,
also hegte sie große Gefühle für ihn. Andererseits stellte sie klar, dass für
sie die Fortführung ihrer Beziehung ausgeschlossen war. Das passte eigentlich
nicht zusammen. Trotzdem konnte er aus dieser Erkenntnis keine Hoffnung
schöpfen. Seine Enttäuschung war einfach zu groß.
Je länger er
herumsaß, desto mehr sehnte er sich nach einem Gläschen Likör oder Cognac.
Eigentlich trank er sonst kaum, und vor allem nicht tagsüber. Er stand wie die
meisten seiner Kollegen dem Alkohol höchst skeptisch gegenüber, wusste er doch
nur zu gut, dass er der Kriminalisierung und insbesondere Gewaltverbrechen
Vorschub leistete. Die Statistiken legten ein beredtes Zeugnis ab.
Unverhältnismäßig häufig kam es nach übermäßigem Alkoholkonsum zu Verbrechen
wie Körperverletzungen oder gar Totschlag. Aber heute konnten ein paar Schlucke
nicht schaden. Otto war davon überzeugt, dass der Alkohol ihm helfen würde,
seine seelischen Schmerzen zu lindern und alles etwas klarer zu sehen.
Aus seinem
Arbeitszimmer holte er eine Flasche Calvados, setzte sich wieder auf die
Terrasse, schenkte sich ein Glas ein und trank es leer. Der Apfelcognac brannte
in seiner Kehle. Weil er fast nichts gefrühstückt hatte, spürte er die Wirkung
rasch. Während er ein weiteres Glas leerte, grübelte er über sein Pech bei den
Frauen. Sowohl Anna als auch Rieke hatte er geliebt. Mit beiden hatte er sich
eine gemeinsame Zukunft gewünscht. Beiden wollte er die Welt zu Füßen legen,
und beide hatten ihn verlassen.
Was machte er nur
falsch?
»Herr Doktor«,
sagte Lina besorgt. »Was ist mit Ihnen?«
Otto hatte die
Calvadosflasche beinahe geleert. Er war mit offenem Mund eingeschlafen, und der
Speichel sickerte aus seinem Mundwinkel. Jetzt stemmte er sich hoch, wischte
sich mit dem Handrücken über das Kinn und sagte leicht lallend: »Es … es ist
alles in Ordnung. Was gi-hibts?«
»Commissarius
Funke ist eingetroffen. Er möchte mit Ihnen sprechen.«
»Nur zu«, sagte
Otto. Bei dem Versuch, sich etwas aufrechter hinzusetzen, rutschte er mit dem
Ellenbogen von der Armlehne.
Der Commissarius
betrat die Terrasse. Sein Gesicht war von einer gespenstischen Blässe, so als
hätte er die ganze Nacht nicht geschlafen. Er trug den Anzug vom Vortag, der
allerdings längst nicht mehr so elegant wirkte. Die Hose wies zahllose Längs-
und Querfalten auf, und das Jackett war zerknittert. Die sonst blitzenden
Lackstiefel waren verstaubt.
Während Otto mit
einigen Schwierigkeiten seinen Morgenmantel zuband, bemühte er sich, auf die
Füße zu kommen. Der Versuch scheiterte. Schließlich blieb er sitzen und sagte
um eine deutliche Aussprache bemüht: »Nehmen Sie bitte Platz! So nehmen Sie
doch Platz.«
»Merci
beaucoup« ,
sagte der Commissarius, kam der Aufforderung nach und legte eine Mappe auf den
Tisch. Wenn er Ottos Verhalten und seinen Aufzug befremdlich fand, überspielte
er es gekonnt.
»Monsieur
le commissaire« ,
sagte Otto überschwänglich, »was führt Sie her?«
»Zunächst möchte
ich mich für mein gestriges Betragen entschuldigen und Sie fragen, ob Sie sich
trotzdem eine weitere Zusammenarbeit vorstellen können.«
Otto verstand
nicht, wovon der Commissarius sprach. Meinte er die Zeichnung oder seinen
Auftritt auf dem Tanzboden? »Schwamm drüber«, sagte er mit einer schwungvollen
Armbewegung und fegte beinahe die Calvadosflasche vom Tisch. »Erzählen Sie mir
lieber, was Sie da mitgebracht haben. Ist es wieder ein Porträt?« Ottos Hand
kreiste wie ein Habicht über der Mappe.
»Nein, nein«,
sagte der Commissarius. »Die vergangene Nacht und der heutige Morgen waren sehr
ereignisreich. Ich komme gerade aus dem Untersuchungsgefängnis, wo etwas sehr
Dramatisches passiert ist. Aber bitte, öffnen Sie die Mappe nur. Der Inhalt
dürfte Sie interessieren.«
Otto schlug die
Mappe auf und kniff die Augen zusammen. Vor ihm lag ein weißes, mit Bleistift
beschriebenes Blatt Papier. Um die krakelige Handschrift zu entziffern, hielt
er sich den Zettel ganz nah vor die Augen. »Was soll das denn heißen?«
»Es handelt sich
um ein Zitat aus dem Evangelium des Johannes, Kapitel sieben, Vers vierundzwanzig«,
sagte der Commissarius. »Es heißt: ›Richtet nicht nach dem, was vor Augen ist,
sondern richtet gerecht!‹ Kriminaldirigent von Grabow hat es geschrieben, kurz
bevor er sich in seiner Zelle erhängte.«
»Er hat sich
erhängt?«
»Ja, in den
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