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Mord unter den Linden (German Edition)

Mord unter den Linden (German Edition)

Titel: Mord unter den Linden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Pieper
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erzählte, wo sie eines Tages leben würde – auf Madeira, in den
Kolonien oder in Alaska –, glänzten ihre Augen. Sie wollte unbedingt fort. Und
ich sollte mitkommen. Natürlich waren wir noch zu jung, und die Moneten fehlten
uns auch.«
    »Verletzte sie
sich zu dieser Zeit noch?«
    »Ich weiß es
nicht. Aber ich glaube, das hörte auf, als sie fünfzehn war und Jonas
kennenlernte. Er war Steinmetzlehrling, müssen Sie wissen. Grabsteine braucht
man in allen Zeiten, hat er immer gesagt. Über ein Jahr lang holte er Rieke
jeden Abend von der Arbeit ab. Sie war damals in Stellung bei einer
Kaufmannsfamilie. Der Jonas hatte nicht nur sein Vergnügen im Kopf wie die
anderen Jungs, sondern interessierte sich für Vulkane und sammelte Gesteine.
Nur der liebe Gott weiß, wo er diese hässlichen Brocken herhatte. Ich fand ihn
jedenfalls erste Sahne. Und die beiden passten so gut zusammen. Das soll nicht
heißen, dass ich mich beklagen will. Ich hab auch Glück gehabt, aber solche
Männer wie der Jonas sind selten. In der ganzen Zeit erlaubte Rieke ihm nicht
einen Kuss. Und als sie ihm gestand, dass sie keine Kinder bekommen könnte, hat
er ihr doch tatsächlich gesagt, dass ihn das nicht stören würde, weil er ja an
ihr interessiert sei. Ich erzähle das nur, um Ihnen zu zeigen, wie anständig er
war, verstehen Sie?«
    »Rieke kann keine
Kinder bekommen?«
    »Hat sie Ihnen das
nicht erzählt? Bei der Fehlgeburt … nun, da ist bei ihr da unten was
kaputtgegangen. Sie war doch noch so jung.« Clara Bukowski warf ihm einen
besorgten Blick zu. Offenbar hatte sie Angst, er würde nun schlecht von ihrer
alten Schulfreundin denken. »Rieke ist ein sehr, sehr feiner Mensch. Sie war in
unserem Viertel immer etwas Besonderes, sie war ganz anders als die anderen
Weibsbilder hier, sie war viel … ach, manchmal bin ich einfach ein Gipskopf,
manchmal fehlen mir die richtigen Worte.«
    »Ich verstehe
schon.«
    »Jedenfalls sprach
der Jonas bei ihrem Vater vor, damit alles seine Ordnung hatte. Aber der Alte
tobte wie ein Wahnsinniger. Was ihm einfallen würde?, schrie er. Seine Tochter
wäre viel zu gut für ihn. Er wolle doch nur das Eine und würde sie hinterher
sitzen lassen. Schließlich verbot er dem Jungen, Rieke noch ein einziges Mal zu
treffen, packte ihn am Schlafittchen und warf ihn vor die Tür.«
    »Ein unangenehmer
Zeitgenosse, der Herr Dürr.«
    »Ja, das kann man
wohl sagen. Aber die beiden brachte das nur noch enger zusammen. Sie trafen
sich heimlich und machten sogar Pläne, nach Hamburg abzuhauen. Leider
durchsuchte der alte Dürr eines Tages Riekes Sachen und fand einen Brief von
Jonas. Daraufhin hetzte er seine Gesellen und die anderen Drechsler gegen den
Jungen auf. Eines Nachts zogen sie zu zehnt los, um ihm die Ohren lang zu
ziehen. Sie drangen in die Wohnung seiner Mutter ein, zerrten ihn aus dem Bett
und verschwanden mit ihm in der Nacht. Der Junge tauchte nie wieder auf. Nicht
bei seiner Mutter, nicht auf der Arbeit, nicht bei Rieke.«
    »Sie werden ihn
doch nicht erschlagen haben?«
    »Ich hab keine
Ahnung, was ihm zugestoßen ist. Nach drei Tagen erstatteten Rieke und seine
Mutter eine Vermisstenanzeige. Doch beide nahmen sie wieder zurück. Ich weiß
nicht, was der Alte Jonas' Mutter angedroht hat, aber Rieke konnte ein paar
Wochen lang nur humpeln.«
    »Er hat seine
eigene Tochter verprügelt?«
    »Verprügelt ist
noch milde ausgedrückt, wenn Sie mich fragen. Das Schwein hat sie beinahe
totgeschlagen. Und für Rieke wurde alles nur noch schlimmer. Als ich ihr sagte,
dass ich mit meinem Ewald weggehen würde, war sie völlig aufgelöst und wusste
nicht mehr ein noch aus. Aus Leipzig schickte ich ihr anfangs jede Woche einen
Brief. Und Sie können mir glauben, dass das nicht die leichteste Übung war.
Schreiben war noch nie meine Stärke. Normalerweise bin ich froh, wenn ich
meinen Namen hinkriege. Aber Rieke reagierte nicht. Einige Jahre später erfuhr
ich, dass sie, kurz nachdem ich weggezogen war, versucht hatte, sich
umzubringen.«
     
    Nachdem Otto die
Kellerwohnung verlassen hatte, ging er die Ackerstraße hinunter, überquerte die
Elsässer Straße und erreichte den Koppenplatz. Zwei Mietdroschken standen unter
einer Gaslaterne und warteten auf Fahrgäste.
    Was Clara Bukowski
ihm erzählt hatte, ließ ihm keine Ruhe. Er wusste, dass ihm zu Hause die Decke
auf den Kopf fallen würde, und ging deshalb in die nächstbeste Destille. Es war
gerammelt voll und roch nach Schweiß und Kohlsuppe. Arbeiter

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