Mord unter den Linden (German Edition)
die sich zwischen ihr und Otto entwickelt
hatten. Und mit Sicherheit hätte sie nicht so naiv sein dürfen, so etwas wie
Freude oder Anteilnahme von ihm zu erwarten. Er war nicht eifersüchtig gewesen,
aber sie hatte in seinen Augen eine große Angst gesehen. Sie wusste, dass sie
der einzige Mensch war, dem er vertraute. Der Gedanke, sie an einen anderen zu
verlieren, hatte ihn sichtlich schockiert.
Natürlich hatte
sie ihm sogleich versichert, dass ihre Zuneigung für Otto nichts mit ihm zu tun
hatte. Schließlich verband sie beide etwas, was ein Außenstehender nicht
nachvollziehen konnte. Aber er hatte nichts davon hören wollen. Er hatte
gezittert und seine Spritze ausgepackt. Nachdem er sein Kokain genommen hatte,
war er wütend geworden. Er hatte sie als »läufige Hündin« bezeichnet und als
»hinterhältige Verräterin«.
Rieke schmiegte
ihre Wange an das Kissen, das von ihren Tränen schon ganz feucht war. Verzweifelt
erkannte sie, dass sie noch genauso machtlos war wie als zwölfjähriges Mädchen.
Sogar er, der ganz genau wissen musste, was jetzt in ihr vorging, nahm keine
Rücksicht auf ihre Gefühle, sondern wollte seinen Willen durchsetzen. Er hörte
ihr nicht mehr zu und machte mit ihr, was ihm gefiel. Und sie war zu schwach,
zu verwirrt und zu ängstlich, um sich zur Wehr zu setzen. Sie konnte es nicht
länger verleugnen: Alles ging von vorn los. Zwar wurde ihr diesmal keine
körperliche Gewalt angetan, aber dass sie nun unter psychischen Druck gesetzt
wurde, wog nicht minder schwer.
Sie schluchzte
laut und drückte ihr Gesicht noch tiefer in das Kissen. Sie wünschte sich weit
fort von hier und dachte an all die Beschreibungen von exotischen Ländern, von
denen sie in den Berichten der Entdeckungsreisenden gelesen hatte. Sie rief
sich Ottos Erzählungen ins Gedächtnis und stellte sich wunderbare Strände vor
und phantastische Sonnenuntergänge. Sie dachte an Berggipfel, die auch im
Sommer schneebedeckt waren. Sie gab sich die allergrößte Mühe, um sich von
ihren Erinnerungen nicht fortreißen zu lassen, aber sie holten sie mit einer
Wucht ein, wie schon seit Jahren nicht mehr. Rieke versank in einem dunklen
Strudel.
Riekes Kammer in ihrem Elternhaus, im November 1879
Rieke saß an dem
wackligen Tisch und knabberte an ihrer Unterlippe. Normalerweise war sie eine
gute Schülerin. Im Lesen und Schreiben brachte sie nur Einsen nach Hause, aber
diese Aufgabe war wirklich schwer. Rieke rechnete fünfmal, und fünfmal kam ein
anderes Ergebnis heraus. Obwohl sie ahnte, dass sie falschlag, tauchte sie den
Federkiel ins Tintenfass und kritzelte die Zahl, auf die sie beim letzten Mal
gekommen war, auf das billige gelbe Papier in ihrem Schreibbuch.
Die Tür öffnete
sich, und ihr Vater trat ein. In seinen Händen trug er eine dampfende
Waschschüssel. »Ich hab Wasser heiß gemacht«, sagte er.
»Oh«, machte
Rieke. Aber sie wollte den Vater nicht verärgern und setzte deswegen schnell
hinzu: »Das ist … lieb.«
Eberhard Dürr
stellte die Schüssel auf einen Hocker. Seife, Waschlappen und Handtuch legte er
daneben. Dann stützte er sich auf dem Tisch ab und beugte sich so über seine
Tochter, dass seine Brust ihre Schulter berührte.
»Hausaufgaben?«,
fragte er.
Rieke zwang sich,
nicht von ihm abzurücken. Die Berührung war ihr unangenehm, aber sie traute
sich nicht, es ihrem Vater zu sagen. Außerdem gab sie sich die Schuld, dass es
überhaupt so weit gekommen war.
Nach dem Tod ihrer
Mutter hatte Rieke ein starkes Bedürfnis nach körperlicher Nähe gehabt. Mit
Clara Bukowski, ihrer besten Freundin, war sie stets Hand in Hand zur Schule
gegangen. Manchmal hatten sie sich gegenseitig in den Arm genommen oder sich
aneinander gekuschelt. Oft hatte Rieke auch einen Hund oder eines der
Nachbarskinder geherzt. Wenn sie ein anderes Lebewesen berührte, seine
lebendige Wärme spürte, hatte sie sich nicht mehr so verlassen gefühlt.
Anfangs hatte sie
sich auch auf den Schoß ihres Vaters gesetzt und ihren Kopf an seine Brust
gelehnt. Aber er hatte sich dann immer komisch gewunden und einen roten Kopf
bekommen. Rieke hatte deswegen damit aufgehört. Bald aber suchte der Vater den
Körperkontakt zu ihr. Wahrscheinlich wollte auch er auf diese Weise Trost
finden.
»Ich weiß nicht,
ob ich die Aufgabe richtig gelöst habe«, sagte Rieke nun.
»Lass mal sehen«,
erwiderte ihr Vater. »Wie teuer sind drei Pfund Äpfel, wenn fünf Pfund
fünfundachtzig Pfennige kosten? Fünfundvierzig Pfennige sind
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