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Mord unter den Linden (German Edition)

Mord unter den Linden (German Edition)

Titel: Mord unter den Linden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Pieper
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laut geworden. Viele einfache Mitglieder kritisierten, dass in der
ganzen Reichstagsfraktion kein einziger Proletarier saß. Tatsächlich gab es
dort einen Advokaten, zwei Rentiers, zehn Schriftsteller und Redakteure, sieben
Zigarrenfabrikanten, vier Gastwirte und einige finanziell abgesicherte
Kleinbürger, aber keinen einzigen Lohnarbeiter.
    Aggressive junge
Männer verlangten mehr Mitsprache bei allen Parteibelangen. Einer ihrer
Wortführer war der dreiundzwanzigjährige, charismatische Arbeiter Alfons Meyer,
der wegen eines Streikaufrufs seine Stellung in einer Emaillefabrik verloren
hatte und sich seitdem ganz der Politik widmete. Auf Versammlungen hatte er
sich als begabter Rhetoriker hervorgetan, und in den Proletarierbezirken galt
er als große Hoffnung. Fast jeden Abend begab er sich in Gaststätten und
Lokale, um mit Gleichgesinnten die aktuelle politische Situation zu
diskutieren.
    Als Meyer an
diesem Tag sein Mietshaus in der Veteranenstraße verließ, beobachtete er ihn
ganz genau. Dann nickte er seinen beiden Komplizen zu, die sich als Gendarmen
verkleidet hatten und im Schatten eines Eingangs warteten. Sie nahmen die
Verfolgung auf. Fast stießen sie eine Frau mit einem großen Korb Wäsche um.
    Dann schlossen die
beiden falschen Gendarmen zu dem Arbeiterführer auf. Einer von ihnen zog einen
Revolver aus der Tasche, zielte auf Meyers Hinterkopf und drückte ab. »Das ist
für den Grafen von Kentzin, du verdammtes Sozialistenschwein!«, brüllte er.

Im Arbeiterviertel
    Otto ging in der
Ackerstraße den Trottoir hinunter, als direkt vor ihm einige Arbeiter aus einem
Mietshaus stürmten und kämpferisch die Fäuste in die Luft reckten. Ihre
Gesichter waren wutverzerrt, als sie laut riefen: »Jetzt ist es genug! Jetzt
kriegen sie was auf die Fresse!« Die wilde Horde bog um die nächste Straßenecke
und verschwand aus seinem Blickfeld.
    Kopfschüttelnd sah
Otto ihnen nach. Gut, dass sie es nicht auf ihn abgesehen hatten. Er konnte
sich nicht erklären, was die Männer so in Rage gebracht hatte. Aber weil er zu
sehr mit anderen Dingen beschäftigt war, dachte er nicht weiter darüber nach
und setzte seinen Weg fort.
    Zwei Häuserblocks
weiter entdeckte er die Hausnummer, nach der er gesucht hatte. Er drückte den
schweren Torflügel auf und ging durch einen Flur mit braunen Wandfliesen. Er
durchquerte den ersten Hinterhof, ging eilig an der Müllsenke und dem Plumpsklo
vorbei, erreichte den nächsten Flur, bei dem die Farbe von den Wänden
blätterte, und betrat den zweiten Hinterhof. Hier hing ein furchtbarer Gestank
in der Luft. Otto griff nach einem Taschentuch, das er sich vor Mund und Nase
hielt. Wie Menschen unter solchen Verhältnissen leben konnten, war ihm
unbegreiflich. Er sah sich um und entdeckte die Quelle des Gestanks: eine
Kleintierschlachterei. An der Hausmauer lehnten Säcke mit Federn, und in einer
weißen Emailleschüssel schwammen Innereien, auf denen fette Fliegen saßen.
    Otto schluckte die
aufkommende Übelkeit hinunter, stieg rasch die Stufen zur Kellerwohnung hinab
und klopfte an die offene Tür. Als sich niemand meldete, trat er ein und rief:
»Ist jemand zu Hause?«
    Suchend blickte er
sich um. Er war offenbar in der Küche gelandet. Auf dem Herd stand ein großer
Topf mit Kochwäsche. Die heiße, blubbernde Lauge griff seine Nasenschleimhäute
an. Trotzdem war das allemal besser als der Gestank draußen. Otto steckte das
Taschentuch zurück in die Hosentasche und trat näher an den Herd. Überall standen
Bottiche mit gräulichem Wasser herum. Auf einem Waschbrett lagen nasse
Unterröcke, Unterhemden und Wollstrümpfe, und zwischen den Wänden waren Schnüre
gespannt, auf denen Bettlaken und Kopfkissenbezüge trockneten.
    Da trat aus dem
Nebenraum eine Frau in die Küche. Sie hatte die Ärmel ihrer Bluse
hochgekrempelt und sagte munter: »Immer rein in die gute Stube. Bestimmt wollen
Sie einen Wäschesack abgeben, nicht? Legen Sie ihn man ruhig hin. Ich pass
drauf auf. Meine Großmutter kommt gleich wieder.«
    »Ich will nicht zu
Ihrer Großmutter«, erwiderte Otto. »Ich will zu Ihnen. Die Leute aus dem Haus,
in dem Ihr Vater sein Geschäft hat, haben mir gesagt, wo ich Sie finden kann.«
    »Kennen wir uns?«
    »Sie sind neulich
auf dem Ausflugsdampfer hinter Ihrem Sohn hergerannt. Oskar ist sein Name, wenn
ich mich recht erinnere.«
    »Ach, jetzt weiß
ich, wer Sie sind. Sie sind der Begleiter von Rieke. Ich sagte ihr, dass sie in
den Laden kommen soll und …« Plötzlich

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