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Mord unter den Linden (German Edition)

Mord unter den Linden (German Edition)

Titel: Mord unter den Linden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Pieper
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gesagt?«,
fragte Otto.
    Der Mann war
hager, hatte ein kantiges, verkniffenes Gesicht und trug ein blaues Zunfthemd.
Unwirsch brummte er: »Was soll ich schon Großes gesagt haben? Nur, dass die
Ilse rangeht wie Lots Töchter! Nicht mehr und nicht weniger.«
    Rangehen wie Lots
Töchter. Stirnrunzelnd betrachtete Otto Ilse, eine üppige Hure um die zwanzig
mit kleinen, eng stehenden Augen, die gerade die Nasen zweier Bauarbeiter in
ihr Dekolleté drückte. Otto hatte diesen Spruch schon Jahre nicht mehr gehört.
An irgendetwas erinnerte er ihn. Aber an was?
    Otto stützte den
Ellenbogen auf den Schanktisch und hatte plötzlich das Bild vor Augen, das im
Dürr'schen Hausflur hing. Lot mit seinen Töchtern. Otto rief sich die
Geschichte aus dem ersten Buch Mose ins Gedächtnis. Bei der Zerstörung von
Sodom überlebte Lot als einziger Mann. Seine Töchter beschlossen daher, sich
von ihrem Vater schwängern zu lassen, damit ihr Geschlecht nicht ausstarb.
    Auf dem Bild bei
Dürrs war, so erinnerte sich Otto, Lot als älterer Mann mit grauem Haar und
grauem Bart dargestellt. Nur spärlich bekleidet saß er auf einer Bettstatt und
ließ sich die liebevolle Behandlung durch seine beiden halb nackten Töchter
gefallen. Die eine schenkte ihm Wein nach, die andere war nah an ihn
herangerückt und legte ihren Kopf an seine Schulter. Das Bild und die
Bibelgeschichte hatten eine klare Botschaft: Unter gewissen Umständen konnte
der Geschlechtsverkehr zwischen Vater und Töchtern gerechtfertigt sein.
    Ottos Verstand arbeitete
fieberhaft. Hatte er gerade eine entscheidende Entdeckung gemacht? Gab es einen
Zusammenhang zwischen dem Bild und dem Verhältnis von Rieke und Eberhard Dürr?
Otto wusste, dass die Geschichte von Lot seit Jahrhunderten angeführt wurde, um
Inzest zu rechtfertigen. Auch von Eberhard Dürr?
    Solche Vorwände
wurden meist von Männern vorgebracht, die sich lange vor einer Tat mit der
Schuldfrage auseinandergesetzt hatten. Bevor es zum Missbrauch kam, hatten sie
manchmal einen langen inneren Konflikt ausgefochten, in dem letztlich das
Geschlechtliche obsiegte. Galt das auch für Dürr? War der Trieb in ihm so
stark, stärker als moralische Bedenken und die Angst vor strafrechtlicher
Verfolgung?
    Natürlich wusste
Otto, dass eine bestimmte charakterliche Disposition sich nicht immer im
Äußeren eines Menschen zeigte. Allerdings offenbarte sich eine hoch entwickelte
Libido fast immer durch die Betonung des Unterleibs: auffällige oder zu enge
Beinkleider, unbedachte Berührungen der Genitalien oder das aufreizende Wiegen
des Hinterteils. Die Ursache für dieses Verhalten lag in einer direkten
Nervenverbindung zwischen der Hirnrinde, dem psychosexualen Zentrum, und dem
Geschlechtsapparat, wie Otto erst kürzlich in einem Aufsatz gelesen hatte. Und
der alte Dürr schob beim Gehen den Unterkörper vor, fast so, als würde ihm sein
Gehänge die Richtung vorgeben. Das war zumindest ein Indiz für ein stark
triebhaft gesteuertes Verhalten.
    Auch alles andere
passte. Rieke hatte den Namen des Vergewaltigers verschwiegen. Natürlich, wie hätte
sie ihren leiblichen Vater auch anklagen sollen? Sie hatte davon geträumt,
auszuwandern. Verständlich, denn was erwartete sie zu Hause? Und sie hatte sich
selbst Verletzungen zugefügt. Vielleicht hatte sich ihre Seele während des
Aktes verschlossen, um die Schmerzen und die Demütigung besser zu ertragen.
Hinterher hatte sie sich mit dem Messer in den Arm geschnitten, um wieder etwas
zu spüren und so Körper und Geist durch den Schmerz wieder zu verbinden.
    Und plötzlich
ergab auch alles andere einen Sinn: Dürr war nicht nur der Schänder seiner
Tochter, sondern er hatte aus Eifersucht auch die Kreuzigungen arrangiert. Er
wollte den Verdacht auf den Nebenbuhler, den Kriminaldirigenten von Grabow,
lenken. Und vielleicht war er dabei auf den Geschmack gekommen und konnte mit
dem Töten nicht aufhören. So hatte auch die dritte Frau sterben müssen.
    Otto beschloss,
dem alten Dürr einen Besuch abzustatten.

In einem abgedunkelten Raum
    Rieke lag auf dem
Bett und ließ die Ereignisse der vergangenen Tage Revue passieren. Nach dem
Bootsausflug hatte er ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass sie Otto nicht
wiedersehen dürfe. Trotzdem hatte sie sich über sein Verbot hinweggesetzt und
war zu der Geburtstagsfeier gegangen. Vielleicht hätte sie ihm hinterher nichts
davon erzählen sollen. Vor allem, so dachte Rieke jetzt, hätte sie ihm nichts
von den Gefühlen berichten sollen,

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