Mord unter den Linden (German Edition)
und Huren drängten
sich in kleinen Gruppen zusammen. Rauchwolken schwebten über ihren Köpfen.
Im Nebenraum stand
ein stark schwitzender Mann auf einem Tisch und rief in die Menge: »Wir wissen
doch noch gar nicht, wer ihn erschossen hat. Jeder könnte sich eine solche
Polizeiuniform anziehen. Und außerdem: Vielleicht wollen sie uns bewusst
provozieren. Erinnert euch nur an Ihring-Mahlow und all die anderen Spitzel,
die sie bei uns eingeschleust haben, um uns aufzustacheln und zu Straftaten zu
verleiten.«
»Was hat das damit
zu tun?«, rief ein junger Mann wütend. »Der oberste Chef der Kriminalpolizei
kreuzigt unsere Frauen. Zwei Gendarmen knallen Alfons ab, und wir sollen
zuschauen wie die braven Lämmer.«
»Das habe ich
nicht gesagt«, meinte der Mann auf dem Tisch. »Ich sage nur, dass wir jetzt
erst einmal Ruhe bewahren müssen. Wir sind ganz nah am Ziel. Das
Sozialistengesetz ist bald Geschichte und –«
»Das ist doch
leeres Geschwätz«, rief der junge Heißsporn. »Wir sollten endlich
zurückschlagen. Wir müssen ihnen zeigen, dass wir nicht alles mit uns machen
lassen.« Die Männer ringsum brachen in zustimmende Rufe aus und reckten
kämpferisch die Fäuste in die Luft.
»Genau das ist es,
was sie wollen«, sagte der Mann auf dem Tisch. »Wenn wir das Gesetz brechen,
beweisen wir doch nur, dass wir kein verantwortungsbewusster Bestandteil dieses
Staates sein können. Deshalb müssen wir unbedingt Ruhe bewahren und dürfen auf
keinen Fall Gewalt anwenden.«
Otto begriff nicht
recht, worum es ging. Er fragte den Mann, der neben ihm stand, was passiert
war, und erfuhr, dass der Mord an einem Arbeiterführer zu dieser Zusammenkunft
geführt hatte. Erschrocken erkannte Otto, dass sich die politische Lage
dramatisch zugespitzt hatte, ganz so wie es Graf zu Eulenburg und Hertefeld
befürchtet hatte.
Mit ernster Miene
sah Otto zu den aufgebrachten Männern hinüber. Sie konnten nicht wissen, dass
Kriminaldirigent von Grabow mit den Kreuzigungen nichts zu tun hatte. Diese
Information war von Commissarius Funke bewusst zurückgehalten worden, um den wahren
Täter in Sicherheit zu wiegen. Mittlerweile war Commissarius Funke bestimmt
über das Attentat auf den Arbeiterführer in Kenntnis gesetzt worden.
Wahrscheinlich wägte er bereits ab, ob er die Informationssperre
aufrechterhalten oder ob er angesichts der neuesten Entwicklungen die Presse
unterrichten sollte, um eine weitere Eskalation zu vermeiden.
Otto war froh,
dass er nicht in der Haut des Commissarius steckte und eine so bedeutsame
Entscheidung treffen musste. Mühsam drängelte er sich nun zum Schanktisch vor
und rief dem Wirt zu: »Einen Krug mit Limonade!« Er wollte einen klaren Kopf
bewahren, außerdem hatte er von Alkohol erst einmal genug.
Eine Hure pirschte
sich von der Seite heran und griff ihm um die Taille. »He, Meister, ich hab so
'n Durst. Spendierst du mir 'ne Anisette?« Sie trug ganz offensichtlich eine
Perücke, denn ihre Haare leuchteten unnatürlich rot. Die breiten, faltigen
Lippen waren grell übermalt, und als sie lächelte, entblößte sie zwei
lückenhafte Reihen brauner Stummel. Um ihren Hals lag eine Federboa, in der
sich die Reste ihrer letzten Mahlzeit – graue, glänzende Bulettenbrocken –
verfangen hatten. Ihre Bluse war weit aufgeknöpft und gab den Blick frei auf
welke Haut.
»Bestimmt nicht.«
»Nu' werd mal
nicht kiebig, Kleiner. Wollt ja nur mal fragen.«
Otto wandte sich
ab und dachte wieder an seinen Besuch bei Clara Bukowski. Er hatte nicht nur
mehr über Rieke erfahren wollen, sondern auch über ihren Vater und das
Verhältnis zwischen den beiden. Clara Bukowski hatte ihm nützliche Informationen
geliefert.
Er trank ein Glas
Limonade und dachte nach. Als Riekes junger Verehrer bei Eberhard Dürr
vorgesprochen hatte, war der Drechslermeister außer sich gewesen. Reagierte er
immer so eifersüchtig, wenn ein Mann sich seiner Tochter näherte? Schmiedete er
auch heute noch Pläne, um Verehrer aus dem Weg zu räumen?
Und Rieke hatte
schon damals große Angst vor ihm gehabt. Sie hatte sogar die Vermisstenanzeige
zurückgezogen, obwohl sie, wahrscheinlich mit Recht, befürchtet hatte, dass
etwas Furchtbares mit Jonas geschehen war. Ihr Vater hatte sie schwer
misshandelt. Wer konnte schon wissen, womit er ihr sonst noch gedroht hatte?
Plötzlich wandte
sich Otto einem Bauarbeiter zu, der neben ihm stand und der gerade etwas gesagt
hatte, das ihn aufhorchen ließ. »Wie bitte? Was haben Sie gerade
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