Mord unter den Linden (German Edition)
unterbrach sie sich. »Ist was mit
Rieke?«
»Das würde ich gern
von Ihnen erfahren«, sagte Otto und berichtete in groben Umrissen, wie sie
zueinander standen und dass Rieke ihn nun nicht mehr sehen wollte. Ihre Rolle
als Zeugin und seinen Verdacht hinsichtlich der Mordfälle sparte er aus.
»Vielleicht setzen
wir uns besser hin«, sagte die Frau und deutete auf einen Stuhl. Schnell räumte
sie einige Holzschüsseln vom Küchentisch. »Ich heiße übrigens Clara Bukowski.
Sie müssen die Unordnung entschuldigen. Meine Großmutter geht schon auf die
achtzig zu. Als Waschfrau verdient sie sich ein paar Groschen dazu, aber es
reicht hinten und vorn nicht.« Clara Bukowski setzte sich ihm gegenüber, griff
nach einer Pfeife und stopfte sie. »Schlechte Angewohnheit, ich weiß. Eine Frau
sollte nicht Pfeife rauchen und so. Vielleicht mach ich es gerade deshalb.
Also, Sie wollen was über Rieke wissen?«
»Ja, deshalb bin
ich hier.«
Sie legte die
Pfeife beiseite, ohne sie anzustecken. »Rieke und ich sind zusammen auf die
Volksschule gekommen. Und seit unserem ersten Schultag waren wir eng miteinander
befreundet. Als wir in der vierten Klasse waren, kam die Schwindsucht. Sie
wütete damals vor allem unter den Näherinnen, Schneidern und Webern. Erinnern
Sie sich noch? Die Leute fielen um wie die Kegel, nicht? Mehrere Bekannte, mein
Großvater und Riekes Mutter starben damals. Ich mochte Frau Dürr wirklich sehr.
Sie hatte so freundlich leuchtende Augen, und sie brachte die Leute zum Lachen.
Uns Kindern hat sie immer Rätsel aufgegeben. Wenn wir sie lösten, bekamen wir
etwas geschenkt, eine Haarschleife oder ein Bonbon. Bis heute will mir nicht in
den Kopf, wie eine solche Frau den alten Dürr heiraten konnte. Sie hätte jeden
Mann haben können.«
»Hat Rieke sich
den Tod ihrer Mutter sehr zu Herzen genommen?«
»Ja, sie hat sie
entsetzlich vermisst. Und als sie gerade anfing, es zu verkraften, gut zwei,
drei Jahre später, wurde sie schwanger.«
»Das kann nicht
sein. Da kann sie doch nicht älter als … zwölf oder dreizehn Jahre gewesen
sein.«
»Ich weiß auch
nicht, wie das passiert ist. Eigentlich hatten wir mit Jungs noch nichts am
Hut. Doch eines Tages brach Rieke in der Schule zusammen und krümmte sich unter
großen Schmerzen. Ihr Kleid färbte sich rot, und auf den Dielen bildete sich
eine Blutlache. Der Arzt musste kommen und ließ sie mit einer Trage wegbringen.
Später erfuhren wir, dass sie eine Fehlgeburt hatte.«
»Weiß man, von wem
sie schwanger war?«
»Rieke hat nie
darüber gesprochen. Weil sie so ein braves Mädchen war, nahmen alle an, dass
sie vergewaltigt worden sei. Vielleicht war es ein Fremder auf dem Schulweg
oder ein Bekannter aus der Nachbarschaft. Vielleicht hatte er ihr gedroht und
sie schwieg deshalb so beharrlich. Ich weiß es wirklich nicht.«
»Wie hat sie das
alles denn verkraftet?«
»Haben Sie mal
ihre Arme gesehen?«
Otto dachte an die
rötlich braunen Narben und nickte.
»Mit dem
Rasiermesser ihres Vaters schnitt sie sich in die Haut. Wenn ich daran denke,
läuft es mir eiskalt den Rücken runter. Einmal hab ich sie dabei erwischt. Ich
wollte sie abholen und hab mich so erschrocken, dass ich ihr eine geklebt habe.
Als ich sie fragte, ob sie noch bei Verstand sei, blickte Rieke mich nur an und
sagte, dass sie sich Schmerzen zufügen müsse, weil sie sonst nichts fühlen
würde. Haben Sie so was schon mal gehört?«
»Nein«, sagte Otto
nachdenklich und fragte: »Richtete sich ihre Aggressivität nur gegen sich
selbst oder auch gegen andere?«
»Auch gegen
andere. Manche Mädchen hatten richtig Angst vor ihr, weil sie sie beleidigte
oder an den Haaren riss. Eine musste besonders leiden. Als ›Lutschmarie‹ und
›Fickmamsell‹ hat Rieke das arme Mädchen beschimpft. Weiß der Himmel, woher sie
solche Ausdrücke kannte! Jedenfalls heulte sich Elvira die Augen aus dem Kopf.«
»Doch nicht etwa
Elvira Krause?«
»Kennen Sie sie?«
Otto kniff die
Augen zusammen. Clara Bukowski lebte nicht in Berlin. Es war durchaus möglich,
dass sie von der Kreuzigung nichts gehört hatte. Doch bevor er Clara Bukowski
jetzt umständlich erklärte, dass Elvira Krause ermordet worden war, wollte er
noch mehr über Riekes Jugend erfahren. »Rieke schikanierte also ihre
Mitschülerinnen?«
»Ja, so kann man
es nennen. Rieke war damals schwierig. Es dauerte eine Weile, bis es besser
wurde, aber sie wurde nie wieder die Alte. Sie redete weniger und war lustlos.
Nur wenn sie
Weitere Kostenlose Bücher