Mord unter den Linden (German Edition)
falsch. Du musst
fünfundachtzig Pfennige durch fünf teilen. Dann weißt du, wie viel ein Pfund
kostet. Das Ergebnis nimmst du mal drei. Die richtige Lösung lautet
einundfünfzig.« Er richtete sich auf. »Schreib das hin. Und dann wasch dich. Es
wird Zeit, dass du ins Bett kommst.« Mit hastigen Schritten verließ er ihre
Kammer.
Ach ja, die
Waschschüssel, dachte Rieke, korrigierte die Lösung und schloss den alten
Buchdeckel aus Pappe, den sie mit Rosen und einer Katze bemalt hatte. Ihre
Freundin Clara hatte ein grinsendes Pony beigesteuert. Und Rieke hatte auf
Claras Schreibbuch einen Strauß bunter Frühlingsblumen gezeichnet. So hatte
jede etwas von der anderen, auch wenn sie getrennt waren.
Als Rieke sich
erhob, fiel ihr Blick auf die Schüssel. Natürlich verstand sie den Vater. Vor
drei Monaten hatte sie zum ersten Mal ihre Blutung bekommen. Als sie das Blut in
ihrer Unterwäsche gesehen hatte, war sie zu Tode erschrocken zu ihrem Vater
gelaufen. Er hatte ihr erklärt, dass ihr Körper nun unrein und sündig sei und
dass sie sich deswegen jeden Tag waschen musste.
Die Veränderungen
an ihrem Körper gefielen ihr überhaupt nicht. Selbstverständlich wusste sie,
dass Mädchen zu Frauen reiften, so war das eben, aber die Männer starrten sie
jetzt immer so seltsam an. Wenn sie ihren Blick erwiderte, schauten sie schnell
weg, so als fühlten sie sich ertappt. Manchmal fragte sich Rieke, ob etwas mit
ihrem Körper nicht stimmte, ob er hässlich oder entstellt war. Und an manchen
Tagen hätte sie sich am liebsten unter einem weiten Umhang versteckt, um den
Blicken zu entgehen.
Verunsichert sah
sie zu dem Loch in der Wand. Kurz nach ihrer ersten Monatsblutung war es
plötzlich da gewesen, und am gleichen Abend war ihr Vater zum ersten Mal mit
der Waschschüssel erschienen. Ohne groß darüber nachzudenken, hatte Rieke ein
Stück Wolle in das Loch gestopft, aber am Tag darauf war das Knäuel
verschwunden, und ihr Vater hatte erneut heißes Wasser gebracht. Obwohl Rieke
das Loch wieder und wieder verstopft hatte, war die Wolle stets entfernt
worden.
Ihr Vater hatte
sich in dieser Zeit stark verändert. Er war abweisend geworden und teilweise richtig
gemein. Wenn Rieke ihn um etwas gebeten hatte, hatte er sie manchmal einfach
stehen lassen. Und er hatte, wenn er ihr Aufträge erteilt hatte, grundsätzlich
einen gereizten Tonfall angeschlagen. Außerdem hatte er sie immer wieder
geschimpft oder ihr Maulschellen gegeben, weil sie angeblich ihre häuslichen
Pflichten vernachlässigt hatte.
Rieke hatte
fürchterliche Angst bekommen. Vielleicht hat er genug von mir, hatte sie immer
öfter gedacht, und wirft mich bei der nächsten Gelegenheit raus. Vielleicht lässt
er mich allein wie Mama. Instinktiv hatte sie verstanden, dass das Loch und
sein abweisendes Verhalten miteinander zusammenhingen. Eines Tages war ihre
Angst so groß gewesen, dass sie ihre Scham überwunden und das Loch nicht
zugestopft hatte.
Sofort hatte sich
sein Verhalten verändert. Lachend aß er nun ihre Pellkartoffeln, auch wenn sie
verkocht waren, überschwänglich lobte er die geputzten Fenster, obwohl sie oft
verschmiert und längst nicht so sauber wie bei ihrer Mutter waren. Von der
Gewerbeausstellung neulich hatte er ihr sogar eine Holzschatulle mitgebracht,
in der sie den Ring aufbewahrte, den sie von ihrer Mutter geerbt hatte.
Rieke war sich
nicht sicher, ob ihr der radikale Wandel gefiel. So viel Aufmerksamkeit wollte
sie nicht, aber ihr Vater war nun so glücklich, und sie musste keine Angst mehr
haben, dass er sie loswerden wollte.
Wahrscheinlich
hatte der Vater das Loch nur gebohrt, um zu kontrollieren, ob sie sich wirklich
wusch. Es ist ja so wichtig für die Gesundheit, dachte sie. Nur gut, dass ich
einen so fürsorglichen Papa habe.
Rieke zog den
Kittel aus, das Leibchen, das Kleid und die langen wollenen Strümpfe, bis sie
vollkommen nackt war. Es war kalt, und im Nu bildete sich auf ihren Armen eine
Gänsehaut. Sie tauchte den Zeigefinger prüfend ins Wasser. Es war angenehm
warm. Als sie nach dem Waschlappen griff, sah sie ein Schimmern im Loch.
Schnell tauchte
sie den Waschlappen ins Wasser und rieb die Seife über den rauen Stoff, bis
sich Schaum bildete. Während sie sich wusch, stellte sie sich das Puppentheater
vor, das sie mit Clara gründen wollte. Sie wollten die Puppen selbst schnitzen
und Märchen für die kleinen Kinder in der Nachbarschaft aufführen. Am schönsten
fanden sie beide »Die kleine Meerjungfrau«
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