Mord unter den Linden (German Edition)
von Hans Christian Andersen. Immer
wenn sie sich die Geschichte gegenseitig vorlasen, mussten sie weinen, weil die
Meerjungfrau für die Liebe alles aufgab und am Ende zu Schaum auf den Wellen
wurde. Das war ungerecht und traurig und gleichzeitig so wunderschön.
Durch das Loch
drangen nun beunruhigende Geräusche. Schnell dachte sie an das Picknick am
kommenden Sonntag. Clara und sie hatten schon eine ganze Menge dafür
beiseitegelegt: zwei Äpfel, eine Handvoll Haselnüsse, zwei Scheiben Brot, einen
Harzer Käse und Sahnebonbons, die ein Geselle ihres Vaters Rieke zugesteckt
hatte. Natürlich wussten die Mädchen, dass es schon zu kalt für ein Picknick
war, aber vor dem schrecklich grauen und ungemütlichen Winter wollten sie jeden
Sonnenstrahl auskosten.
Als drüben
Schritte erklangen und das Fenster aufgemacht wurde, wusste sie, dass sie
endlich erlöst war. Rieke legte den Waschlappen beiseite, trocknete sich ab und
streifte schnell das Nachthemd über. Sie kniete sich vor das Fenster und
faltete die Hände. Wenn sie beim Gebet in den Nachthimmel schaute, fühlte sie
sich ihrer Mutter näher. Vielleicht saß sie auf einem Stern und blickte auf sie
herab.
»Lieber Gott«,
flüsterte Rieke. »Heute hat mich der Lehrer gelobt, weil ich den ›Erlkönig‹ so
schön aufgesagt habe. Nach der Schule hab ich große Wäsche gemacht und Äpfel
eingekocht. Nicht ein einziges Mal hab ich geflucht oder böse Gedanken gehabt.
Bitte behüte mich und hilf mir, damit ich weiter so brav bin.«
Rieke wandte
erstaunt den Kopf zur Seite. Normalerweise erklang aus der Kammer des Vaters
ein tiefes, sonores Schnarchen, kurz nachdem sie mit dem Waschen fertig war.
Aber heute hörte sie Schritte, schwere, schnelle Schritte. Ruhelos trampelte
ihr Vater durch den Raum, so als wäre er auf der Flucht. Was macht er denn da?,
fragte sich Rieke. Doch ihr fiel keine Antwort ein, und so betete sie weiter.
Sie blickte wieder
in den Sternenhimmel und flüsterte: »Lieber Gott, bitte halte deine schützenden
Hände über Clara und ihren kleinen Bruder, der schon seit einer Woche Fieber
hat, und über meinen Papa, der manchmal flucht und grobe Worte benutzt. Er
meint es aber nicht so. Er tut nur so böse, damit die Gesellen Angst vor ihm
haben und machen, was er will. Bewahre alle meine Lieben vor Krankheiten und
dem Tod, damit ich nicht allein zurückbleibe. Und bitte grüße die Mama.
Könntest du ihr ausrichten, dass sie nicht traurig sein soll, weil ich letzten
Sonntag nicht zum Grab kommen konnte? Ich musste nämlich den Hof fegen, weil
der Lehrling jetzt Geselle ist und Wichtigeres zu tun hat. Aber nächsten
Sonntag komme ich und bringe was zum Vorlesen mit. Sag ihr das bitte.« Rieke
zog die Stirn kraus und überlegte, ob sie noch etwas vergessen hatte. Als ihr
nichts mehr einfiel, sagte sie leise: »Amen.«
Der Tag war lang
gewesen, und sie war furchtbar müde. Rieke freute sich auf ihr warmes,
kuscheliges Bett. Als sie die Decke zurückschlug, öffnete sich die Tür.
Ihr Vater stand
mit flackernden Augen da und streckte die Hand nach ihr aus. Sein Gesicht
glänzte feucht und war gerötet, so als hätte er Fieber.
»Du kommst jetzt
mit nach drüben«, sagte er.
Im Haus von Eberhard Dürr
Auf der
Droschkenfahrt stellte Otto sich vor, wie sich der alte Dürr an seiner Tochter
verging, und vor Wut und Ekel war seine Kehle wie zugeschnürt. Ganz abgesehen
von seinen Gefühlen für Rieke hatte er es schon immer gehasst, wenn Stärkere
sich an Schwächeren vergriffen, und er hasste es noch mehr, wenn jemand dabei
seine Vertrauensstellung missbrauchte. Zwar spürte er, dass er im Begriff war,
die Kontrolle zu verlieren, und er ahnte, dass es keine gute Idee war, in
dieser Stimmung zu Dürr zu fahren, aber er konnte jetzt nicht mehr zurück.
Nachdem die
Droschke angehalten hatte, sprang er aus der Kabine und gab dem Kutscher eilig
sein Geld. Er stürmte die Treppe hoch und ließ den Messingklopfer mehrmals laut
gegen die Tür fallen.
»Sofort
aufmachen!«, rief er. In der Nachbarschaft erwachte ein Hund und fing an zu
kläffen. Als sich im Haus nichts regte, trommelte Otto mit den Fäusten gegen
die Tür. »Machen Sie sofort die Tür auf, Dürr!«
Endlich regte sich
im Inneren etwas. Otto presste sein Ohr gegen das Holz und hielt die Luft an.
Er hörte Holz knarren. Das waren Schritte. Ja, jemand kam wahrscheinlich gerade
die Stiege hinunter.
Otto trat einen
Schritt zurück und presste die Arme an die Rippen. Nach Kräften bemühte
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