Mord unter den Linden (German Edition)
war der Gönner von
Rieke? »Wenn Sie mich anlügen, dann –«
»Ich will doch
auch, dass Rieke zurückkommt.«
Otto holte aus und
rammte dem alten Dürr die Faust in den Magen. »Ja, das denke ich mir, damit Sie
sie wieder ganz für sich haben. Aber das sage ich Ihnen: Wenn Sie Rieke noch
einmal anfassen, wenn Sie ihr nur ein Härchen krümmen, dann komme ich wieder.
Das schwöre ich Ihnen.«
Auf der Straße
Als Otto das Haus
verließ, zitterten ihm die Knie. Das letzte Mal war er jemanden so hart
angegangen, als ein Mitschüler Ferdinand gequält hatte. Aber das war über
zwanzig Jahre her, und er hatte noch kurze Hosen getragen.
Hatte Eberhard
Dürr wirklich die Wahrheit gesagt? Und wenn ja, was hieß das?
Während Otto
Richtung Alexanderplatz ging, kamen ihm einige Arbeiter entgegen und brüllten
politische Parolen. Sie hielten Knüppel in den Fäusten und wirkten äußerst
aggressiv.
Hoffentlich kommt
es nicht zu Ausschreitungen, dachte Otto. Denn dann würde der Kaiser mit aller
Härte zurückschlagen, und ein Bürgerkrieg stand zu befürchten. Das wäre das
Schlimmste, was passieren konnte. Es würde Generationen dauern, bis die Wunden
verheilt wären.
Otto war sich
darüber im Klaren, dass er zur Beruhigung der Lage beitragen konnte, indem er
half, den Mörder zu überführen. Also zwang er sich zur Konzentration.
War Vitell der
geheimnisvolle Hintermann? Hatte er Rieke dazu gebracht, von Grabow erst so
spät zu belasten? Steckten Vitell und Rieke unter einer Decke? Zumindest traute
Otto ihm ein solch raffiniertes Komplott gegen den Kriminaldirigenten eher zu
als dem alten Dürr.
Wenn Vitell und
Rieke sich seit mehreren Jahren kannten, wie Dürr behauptete, dann war alles
vielleicht bis ins kleinste Detail geplant gewesen. Doch welche Rolle spielte
er, Otto, dabei? Plötzlich fielen ihm zahlreiche kleine Ungereimtheiten auf:
Vitells Wunsch, dass er sich an den Ermittlungen beteiligen sollte. Sein
Engagement, um Otto aus dem Gefängnis zu holen. Die allzu offensiven
Annäherungsversuche von Rieke, die Einladung ins Theater, das Picknick. Und
dann ihre zögerliche Aussage, die den Verdacht auf den Kriminaldirigenten
gelenkt hatte. Mit einem Mal verstand Otto: Das alles war von langer Hand
vorbereitet gewesen. Und Otto war nicht mehr als eine Schachfigur gewesen. Sie
hatten ihn hin- und hergeschoben, wie es ihnen gerade gepasst hatte. Es musste
so einfach gewesen sein, ihn zum Narren zu halten.
Und Rieke hatte
dafür sogar mit ihm geschlafen. Wahrscheinlich hatte sie den Akt als besondere
Herausforderung gesehen, um ihr schauspielerisches Talent unter Beweis zu stellen.
Sie war wirklich begabt, das musste man ihr lassen.
Über ihm, im
dritten Stockwerk eines Mietshauses, öffnete jemand ein Fenster und leerte
seinen Nachttopf. Der Urin klatschte auf die Straße und spritzte Otto auf die
Hosenbeine. Er bemerkte es kaum.
Sein ganzes
Vertrauen hatte er Rieke geschenkt, und sie hatte es schamlos ausgenutzt.
Konnte einem Menschen Schlimmeres widerfahren? Er erinnerte sich an die Worte
von Phaedrus, einem lateinischen Fabeldichter: »Hinter der Schmeichelei eines
schlechten Menschen versteckt sich Verrat.«
Die Enttäuschung
war groß, doch gleichzeitig spürte er Trotz in sich aufsteigen. Sollte er Rieke
und Vitell wirklich davonkommen lassen? Nein, das konnte er nicht. Sie hatten
ihn belogen, betrogen und gedemütigt, und jetzt sollten sie sein Kämpferherz
kennenlernen. Wenn er sie zur Strecke gebracht hatte, konnte er sich
zurückziehen und seine Wunden lecken. Sollten sie sich ruhig in Sicherheit
wiegen. Er wusste nun Bescheid.
Ottos Verstand
arbeitete mit verzweifelter Entschlossenheit. Bei Vitell durfte er nicht so
impulsiv wie beim Kriminaldirigenten oder beim alten Dürr vorgehen. Dazu kannte
der Kommerzienrat zu viele einflussreiche Persönlichkeiten, die ihn schützen
würden.
Nein, er musste
jeden Schritt sorgfältig planen. Zuerst musste er den Commissarius aufsuchen –
am besten noch heute Nacht, am besten jetzt gleich – und ihm von seinen
Erkenntnissen berichten.
Funke würde mit
Sicherheit Rat wissen.
In der Küche des Commissarius
» Mon
Dieu «, rief der
Commissarius und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Er saß auf einem
Hocker in seiner Küche.
Inzwischen hatte
sich Otto eigentlich an Funkes auffällige Kleidung gewöhnt, doch übertraf sein
jetziger Aufzug alles Bisherige: Sein türkischer Fez leuchtete in der
grellroten Farbe von Vogelbeeren, er trug einen
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