Mord unter den Linden (German Edition)
herausgefunden, dass Karl Vitell verheiratet
ist.«
»Ich dachte, er
wäre ein eingefleischter Junggeselle.«
»Alle Welt denkt
das. Aber dem ist nicht so. Seine Gattin ist eine Adelige, eine Baronin von
Rheinsberg, die in einem Palais am Großen Stechlinsee lebt. Ihr eilt ein
äußerst pikanter Ruf voraus, wenn Sie verstehen, was ich meine. Die Eheleute
haben sich vor vielen Jahren getrennt. Nur wenige Personen wissen davon.« Der
Commissarius sah Otto fest in die Augen. »Das ist wenig, ich weiß, aber
zumindest ist es ein Ansatzpunkt.«
»Wie sollen wir
vorgehen?«
»Es ist besser,
wenn ich mich vorerst im Hintergrund halte … Also besuchen Sie die Baronin
zunächst allein, ganz informell natürlich, und versuchen etwas über Vitell in
Erfahrung zu bringen. Hinterher erstatten Sie mir Bericht. Ich werde
unterdessen sehr diskret weitere Nachforschungen anstellen. Außerdem werde ich
einige erfahrene Polizisten Vitell beschatten lassen, damit der Kommerzienrat
kein weiteres Unheil anrichten kann.«
»Ich breche gleich
morgen früh auf.«
»Ich habe nichts
anderes erwartet, mein Lieber, aber eines sollte Ihnen klar sein: Das ist kein
Räuber- und Gendarmspiel, das ist tödlicher Ernst.«
In »Klein-Sanssouci«
Otto schritt einen
langen Gang hinunter. Links und rechts saßen in langen Reihen Kriminelle. Ihre
dumpfen oder freundlichen, ihre bösen oder nervösen, ihre brutalen oder
neutralen, ihre schlauen oder verschlagenen Gesichter waren ihm zugewandt. Am
Kopfende des Gangs saß eine Person rittlings auf einem Stuhl. Statur,
Körperhaltung und die langen blonden Haare kamen ihm bekannt vor. Es war eine
Frau. Dann drehte sie den Kopf über die Schulter und sah ihn aus strahlenden
saphirblauen Augen an.
»Nein«, rief Otto
und fuhr auf. Er saß senkrecht im Bett. Sein Brustkorb hob und senkte sich. Das
Nachthemd klebte an seiner Haut. Es dauerte einen Augenblick, bis er begriff,
dass er nur geträumt hatte.
Mit einem Seufzen
sank er zurück ins Laken. Während er in die nächtliche Stille horchte, stellte
sich die nervöse Unruhe wieder ein, die ihn schon den ganzen Tag über verfolgt
hatte. Tausend Fragen marterten sein Hirn, und er wusste, dass nun an Schlaf
nicht mehr zu denken war.
Mit einem Stöhnen
erhob er sich aus seinem Bett und tappte durch das Haus. Er öffnete die
Terrassentür und trat nach draußen. Als er barfuß zum Bootsanleger ging, spürte
er das feuchte Gras unter seinen Füßen. Er setzte sich auf den Rand des Stegs
und ließ seine Beine über dem Wasser baumeln.
Eine Eule flog
über ihn hinweg und landete in einem Baum. Wenige Meter von Otto entfernt
tauchte ein Fisch aus dem Wasser, und silberne Wellen dehnten sich konzentrisch
aus.
War er wirklich
nur ein Instrument gewesen? Warum war das alles so kompliziert? Viel einfacher
wäre es, wenn sich Rieke als gefühllose Intrigantin entpuppt hätte, die ihn
eiskalt ausgenutzt hatte und nun seinen ganzen Hass herausforderte. Doch das
Bild von ihr war vielschichtiger.
Vor allem eine
Frage ging ihm seit gestern Abend nicht mehr aus dem Kopf: Wenn Rieke nie etwas
für ihn empfunden hatte, was hatte sie dann auf seiner Geburtstagsfeier
gewollt? Der Plan war zu diesem Zeitpunkt doch längst aufgegangen.
Kriminaldirigent von Grabow saß hinter Gittern, und alle Welt glaubte, dass er
Elvira Krause und die Hure aus dem Lustgarten ermordet hatte. Warum war sie
also erschienen und hatte auch noch mit ihm geschlafen? Und warum hatte sie in
der Nacht, hier, auf diesem Steg, so geweint und sich an ihn geklammert, als
würde sie ertrinken?
Es konnte nur eine
Antwort geben: Rieke hatte sich über Vitells Anweisungen hinweggesetzt. Sie
hatte eigenmächtig gehandelt, um ihn ein letztes Mal zu sehen. Sie war zu
seinem Fest gekommen, weil sie ihn mochte. Dazu würde auch ihr kurzer Ab-
schiedsbrief passen.
Ja, dachte Otto,
ihre Zuneigung war nicht vorgetäuscht gewesen, sondern echt. Hoffnung glomm in
ihm auf, um gleich wieder zu erlöschen. Denn offenbar waren ihre Gefühle nicht
stark genug gewesen, um sich ihm anzuvertrauen.
Otto griff nach
einem kleinen Stein und schleuderte ihn in die Dunkelheit. In einiger
Entfernung erklang ein leises Platschen. Wie lange hatte Anna ihm etwas
vorgespielt, ohne dass er es bemerkt hatte, und wie lange Rieke? Anna wohl ein
halbes Jahr lang, Rieke knapp zwei Wochen. Da kann ich mich ja glücklich
schätzen, dass ich diesmal so glimpflich davongekommen bin, dachte er bitter.
Was hatten
Jean-Paul und Karl Vitell
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