Mord unter den Linden (German Edition)
Vitells Gunsten ausgesagt
hatten, war er nur in einem Fall zu einer Geldstrafe verurteilt worden.
Birkefeld hatte
den jungen Vitell vor sich selbst schützen und vor allem sich das Talent seines
Lehrlings erhalten wollen. So hatte er beschlossen, ihn der Baronin von
Rheinsberg vorzustellen, der Gastgeberin von berühmt-berüchtigten »exotischen«
Bällen. Es hatte sich schnell herausgestellt, dass zwischen dem
sechzehnjährigen Lehrling und der einunddreißigjährigen Adeligen eine
Seelenverwandtschaft bestanden hatte. Das ungleiche Paar war eine Beziehung
eingegangen, die ganz den Phantasien des Marquis de Sade und des Ritters von
Sacher-Masoch entsprochen hatte.
Irgendwann hatte
der kontrollierte Exzess Karl Vitell jedoch nicht mehr ausgereicht. Wieder war
er durch die Berliner Straßen gelaufen und hatte Frauen gesucht, um sie zu
quälen. Eines Tages hatte er eine Blumenverkäuferin auf den Spreewiesen
vergewaltigt und dabei beinahe erdrosselt. Die Intervention seines Chefs hatte
nicht verhindern können, dass erneut ein Verfahren gegen ihn eingeleitet worden
war. Weil es mehrere Augenzeugen gegeben hatte, hatte sich schnell
abgezeichnet, dass Vitell dieses Mal nicht ungeschoren davonkommen würde. Um
der Verurteilung zu entgehen, hatte er sich freiwillig zum preußischen Heer
gemeldet, das nur wenig später gegen Frankreich gezogen war. Am Tag bevor sein
Regiment Berlin verlassen hatte, hatte er die Baronin von Rheinsberg in
Anwesenheit weniger Freunde geheiratet.
Im Januar 1871 war
er überraschend aus Frankreich heimgekehrt. Die Baronin war überglücklich
gewesen, ihren jungen Ehemann unversehrt in die Arme schließen zu können. Doch
hatte es nicht lange gedauert, bis sie erkannt hatte, wie sehr sich Karl Vitell
im Krieg verändert hatte. Er hatte unter Alpträumen, Hitzewallungen und starken
Schweißausbrüchen gelitten. Manchmal hatte er mitten in der Nacht die Decke von
sich geschoben und war barfuß und nur mit einem Hemd bekleidet im Garten durch
die eisige Winternacht spaziert. Auch sein Körper hatte sich verändert. Er
hatte fast keinen Bartwuchs mehr, und seine Gesichtshaut war teigig geworden.
Auch hatte er häufig über Knochenschmerzen geklagt und war bald nach seiner
Rückkehr an einer Nierenentzündung erkrankt. Trotzdem hatte er keinem Arzt
gestattet, ihn eingehend zu untersuchen. Wie ernst es um ihren Mann stand,
hatte die Baronin spätestens an dem Tag begriffen, an dem sie ihn in der
Scheune gefunden hatte, wo er auf einem Melkschemel gesessen und sein Kinn auf
den Lauf einer Jagdflinte gedrückt hatte.
Entsetzt hatte die
Baronin erkannt, dass ihm in Frankreich Schreckliches widerfahren sein musste.
Doch jede Frage nach seinen Erlebnissen hatte er ignoriert. Auf tröstende Worte
hatte er meist mit Beschimpfungen reagiert. Jede Berührung hatte er brüsk
zurückgewiesen, auch hatte er sie kein einziges Mal mehr angefasst. Überhaupt hatte
er einen Hass gegen alles Weibliche entwickelt, der sich rasch ins
Unermessliche gesteigert hatte. Einmal war er durch das Palais gerannt und
hatte in Aktgemälde von Frauen gestochen und die Leinwände zerschnitten. Als
die Baronin ihn daraufhin angebrüllt hatte, hatte er sich in eine Ecke gekauert
und geweint wie ein kleiner Junge.
Nur wenige Monate
nach seiner Rückkehr hatte Vitell seine Sachen gepackt und ihr eröffnet, dass
er nach Berlin zurückkehren wolle, um in der Kohlegroßhandlung von Klaus Birkefeld
den Vertrieb zu übernehmen.
»Das liegt jetzt
neunzehn Jahre zurück«, schloss die Baronin ihre Erzählung. »Seitdem habe ich
nichts mehr von ihm gehört.«
Nachdem sie sich
verabschiedet hatten, bestiegen Otto, Ferdinand und Moses den Landauer und
machten sich auf den Rückweg nach Fürstenberg. Der Wald verschluckte ihr
kleines Gefährt wie ein riesiger Schlund. Die Sonne blitzte noch einmal auf und
verschwand dann hinter den mächtigen Baumkronen.
Moses und
Ferdinand steckten die Köpfe zusammen und tuschelten aufgeregt. Otto starrte
vor sich hin, ohne seine Umgebung wahrzunehmen. Obwohl das Gespräch mit der
Baronin ihm weitergeholfen hatte und er nun ganz sicher war, dass Vitell der
Mörder war, ging ihm eines nicht aus dem Kopf: Erst kürzlich hatte Prof. Krafft-Ebing
aus Wien, eine Koryphäe auf dem Gebiet der Kriminalpsychologie, dargelegt, dass
ein krankhaft gesteigerter Geschlechtstrieb die Willensfreiheit des betroffenen
Menschen einschränken könne. Die Nichtbefriedigung des Drangs könne eine starke
psychische Störung
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