Mord unter den Linden (German Edition)
Figur –,
waren sie von auffallender Schönheit. Und sie alle schienen sich überhaupt
nicht zu genieren.
Solche Szenen
hatten sich im alten Rom oder im vorrevolutionären Frankreich zugetragen, aber
dass es so etwas auch im biederen deutschen Kaiserreich gab, hätte sich Otto
nicht träumen lassen. Er musste an Odysseus denken, der seinen Gefährten
befohlen hatte, ihn an den Mast seines Schiffs zu binden und sich die Ohren mit
Wachs zu verstopfen, um nicht dem Gesang der Sirenen zu verfallen. Unter
Aufbietung seiner ganzen Willenskraft riss er sich von dem verlockenden Anblick
los und fragte förmlich: »Darf ich mich setzen?«
Die Baronin
deutete auf eine zweite Ottomane neben ihr. Den Mädchen machte sie ein Zeichen,
aus dem Wasser zu kommen und sich ein wenig um die Herren zu kümmern.
»Also …«, fing
Otto an und zuckte zusammen, als sich zwei zarte Hände auf seinen Nacken legten
und die verspannten Muskeln sanft massierten. Das gefiel ihm zwar
außerordentlich gut, aber so konnte er unmöglich klar denken. »Bitte, Baronin!
Ich komme in einer ernsten Angelegenheit.«
»Meine Nixen haben
sich lange nach einem starken Mann gesehnt. Sie meinen es doch nur gut.
Entspannen Sie sich einfach ein bisschen.«
In diesem Moment
hörte Otto ein Kichern. Hektisch drehte er sich um und sah seinen Bruder, der
hin- und herhüpfte, um sich den Händen eines Mädchens zu entziehen. Ferdinand
war fürchterlich kitzelig. Die kleinste Berührung reichte aus, um ihn völlig
aus der Fassung zu bringen.
Die Situation
entgleitet mir, dachte Otto und sagte mit ernster Stimme: »Ich bin gekommen, um
mit Ihnen über Karl Vitell zu sprechen.«
»Oh!« Die Hand der
Baronin schnellte vor ihren Mund. Ihre braunen Augen weiteten sich. Einen
Moment sah sie verletzt aus, dann gebot sie den Nixen, zurück ans Wasser zu
gehen. »Ich habe viele Jahre nichts von ihm gehört. Bringen Sie eine Botschaft
von ihm?«
»Nein, das tue ich
nicht.«
»Was wollen Sie
dann?«
»Karl Vitell wird
verdächtigt, mehrere Frauen ermordet zu haben. Ich bin hier, um Licht in seine
Vergangenheit zu bringen. Natürlich weiß ich, dass er Ihr Ehemann war.
Vielleicht fühlen Sie sich ihm noch verbunden, aber ich kann Ihnen versichern,
dass Sie das Leben unschuldiger Frauen retten, wenn Sie uns helfen. Wir
vermuten nämlich, dass er weiter töten wird.«
»Töten, sagen Sie.
Das kann nicht sein … Sind Sie sicher, dass Karl der Täter ist?«
Otto schilderte in
knappen Zügen, was der Commissarius und er herausgefunden hatten.
Die Baronin hörte
aufmerksam zu und sagte schließlich: »Wenn er mich nicht verlassen hätte, wäre
das niemals geschehen. Bis heute weiß ich nicht, warum er gegangen ist. Ich hab
ihm doch alles gegeben, was er brauchte.«
»Wie meinen Sie
das?«, fragte Otto. Und da begann die Baronin zu erzählen. Sie schilderte ihre
Beziehung zu Karl Vitell mit einer schonungslosen Offenheit. Otto hätte niemals
für möglich gehalten, dass eine Dame so daherreden könnte. Mehrere Male konnte
er ihrem Blick nicht standhalten und bekam heiße Wangen. Auch Ferdinand und
Moses sperrten staunend den Mund auf. Doch aus der Baronin sprudelte es nur so
hervor.
Sie erfuhren, dass
Karl Vitell am 2. April 1849 als Sohn eines Armenarztes und einer
Pastorentochter in Dessau geboren worden war. Schon als Kind waren bei ihm
Verhaltensauffälligkeiten beobachtet worden, die sich niemand hatte erklären
können oder wollen. Im Alter von dreizehn Jahren war ein krankhaft gesteigerter
Geschlechtstrieb diagnostiziert und mit kalten Sitzbädern, Kampfertee und
Bromsalzen behandelt worden. Nachdem er die Königliche Franzschule, eine
Handelsschule, abgeschlossen hatte, war er nach Berlin gegangen, um bei dem
Kohlegroßhändler Klaus Birkefeld eine Kaufmannslehre anzufangen.
Karl Vitell hatte
seinen Lehrherrn durch eine rasche Auffassungsgabe, betriebswirtschaftliches
Denken, Fremdsprachenkenntnisse und eine schier unerschöpfliche Energie
beeindruckt. Gleichzeitig jedoch hatte er sich in der Anonymität der Großstadt
ganz seinem Trieb hingegeben. Im Tiergarten hatte er sich vor Reitschülerinnen
entblößt. Am Landwehrkanal war er dabei erwischt worden, wie er auf eine
schlafende Fahrkartenverkäuferin ejakuliert hatte. Und eine Prostituierte hatte
er beim Koitus so lange gewürgt, bis sie bewusstlos geworden war. Zwar war all
dies zur Anzeige gebracht worden, doch weil die Richter die Glaubwürdigkeit der
Opfer angezweifelt und mehrere Leumundszeugen zu
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