Mord unter den Linden (German Edition)
einen Vortrag gehalten. Der Herr Vorsitzende wird sich
freuen, Sie begrüßen zu dürfen. Wollen Sie nicht ablegen?«
»Nein, danke. Ich
will nur wissen, wo er steckt.«
Da bemerkte das
Dienstmädchen Ferdinand und Moses und fragte: »Vielleicht sollte ich Sie zuerst
anmelden?«
Doch Otto
beachtete sie nicht weiter, sondern stürmte los, an der Garderobe vorbei, wo
ungefähr zwanzig Zylinder ordentlich aneinandergereiht hingen. Dann hastete er
weiter über die weichen, großgeblümten Teppiche.
»Er ist im
Billardzimmer«, rief das Dienstmädchen ihm nach. »Die zweite Tür auf der
rechten Seite.«
»Das ist doch der
Club von Berlin«, flüsterte Ferdinand, der im Laufschritt zu seinem Bruder aufgeschlossen
hatte. »Lass dich zu nichts hinreißen. Der Kommerzienrat ist ein mächtiger
Mann. Wir sollten in Ruhe überlegen, was wir als Nächstes unternehmen.«
»Ferdi hat recht«,
sagte Moses. »In diesem Zustand schaffst du dir nur –«
Doch da riss Otto
schon die Tür zum Billardzimmer auf und betrat es mit energischen Schritten. An
den Wänden standen mehrere mit Leder bespannte Bänke, bei deren bloßen Anblick
man schon Rückenschmerzen bekam. Darüber steckten Queues in Halterungen, sie
waren unterschiedlich lang und aus den verschiedensten Hölzern. Vor den
Fenstern hingen Samtgardinen, die mit Goldkordeln zusammengebunden waren. Drei
massive, mit grünem Filz bespannte Billardtische aus Eichenholz standen in der
Mitte des Raumes.
Am vordersten
Tisch visierte Karl Vitell gerade über die Spitze seines Queues die rote Drei
an. Neben ihm standen ein Aschenbecher mit einer qualmenden Zigarre und ein
Glas mit einer goldbraunen Flüssigkeit. Erschrocken zuckte Vitell zusammen, als
Otto plötzlich den Raum betrat, und sein Stoß ging fehl. Verärgert richtete
sich der Kommerzienrat auf und bedachte den Eindringling mit einem wütenden
Blick.
»Sie Feigling«,
platzte Otto heraus. »Hinterrücks wollten Sie mich erschießen lassen, aber Ihre
Mordbuben haben mich verfehlt. Damit haben Sie nicht gerechnet, was?«
»Herr Doktor«,
sagte Vitell. »Was … was für eine Ehre. Ich bin mir sicher, dass unsere
Mitglieder sich freuen, Sie zu sehen. Manch einer hat vielleicht noch Fragen zu
Ihrem Vortrag.«
»Lassen Sie das
Theater!«
Vitell wandte sich
seinem Mitspieler, einem dicklichen Herrn mit weißem Haar, zu. »Herr
Generaldirektor, würden Sie uns bitte entschuldigen? Heute fühle ich mich
ohnehin nicht wohl, und es scheint, als hätte Herr Dr. Sanftleben etwas
Dringendes mit mir zu besprechen.«
»Selbstverständlich«,
sagte der Generaldirektor, steckte seinen Queue in die Halterung und verließ
mit durchgedrücktem Rücken und mit strammem Schritt den Raum.
»Was fällt Ihnen
ein, hier so hereinzuplatzen?«, fragte Vitell und glättete sein Haar mit einem
Kamm, den er hektisch aus seiner Jackentasche gezogen hatte.
»Ich wollte Sie
nur wissen lassen«, entgegnete Otto, »dass ein Kampf erst so richtig
interessant wird, wenn sich die Gegner einmal in die Augen geschaut haben.«
»Wollen Sie mir
etwa drohen?« Vitells Stimme hatte scharf klingen sollen, sie hatte sich aber
überschlagen und wirkte nun fast weibisch. Wieder kämmte der Kommerzienrat sein
Haar, doch fuhr er diesmal so kräftig über seinen Schädel, dass die Kopfhaut an
einer Stelle aufplatzte und ihm ein feiner Blutfaden über die Schläfe rann.
Plötzlich war Otto
ganz ruhig und analysierte sein Gegenüber wie jeden anderen Geisteskranken.
Vitell stand kurz davor, sein wahres Ich zu zeigen. Noch kämpfte er darum, die
Fassade aufrechtzuerhalten, aber eine feine Schweißschicht hatte sich schon
über seine Wangen gelegt und verlieh ihm das Aussehen eines Schwindsüchtigen.
Seine Bewegungen wirkten angestrengt und überhastet. Wie würde er erst
aussehen, wenn der Wahnsinn die Herrschaft übernommen hatte, wenn weder Gesetz
noch Moral oder Gottesfurcht ihn bremsen konnten und er den dunklen Kräften in
sich ausgeliefert war? Ja, es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass er nicht
nur psychisch, sondern auch physisch krank war.
Nachdenklich
betrachtete Otto, wie das Blut über Vitells Gesicht rann. Warum nur hatte er
die Frauen mit dem Messer so oft verletzt?
Otto erinnerte
sich an Prof. Krafft-Ebings Studie, in der er dargelegt hatte, dass in der Ars amandi , dem Liebesspiel, der züchtigen Zurückhaltung
der Frau eine große Bedeutung zukäme. Um den Widerstand des Weibes zu
überwinden, so wusste Otto, war der Mann von Natur aus
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