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Mord unter den Linden (German Edition)

Mord unter den Linden (German Edition)

Titel: Mord unter den Linden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Pieper
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aggressiver. Der
männliche Eroberungstrieb fand durch das Eindringen des Gliedes in die Vagina
Erfüllung. Bei einer krankhaften Disposition konnte dieser Drang so übermächtig
werden, dass die sexuellen Aktivitäten übertrieben wurden und keine
stimulierenden Reize mehr auf den psychosexualen Apparat ausübten. In solchen
Fällen beobachtete man häufig ein Schwinden oder sogar ein vollständiges
Erlöschen der Erektionsfähigkeit. Dem Kranken blieb also gar nichts anderes
übrig, als zu einem Substitut zu greifen, das ihm die gewaltsame Inbesitznahme
der Frau ermöglichte. Und plötzlich verstand Otto: Das Messer war ein
Penisersatz für Vitell.
    »Sie sind
impotent«, sagte er und wunderte sich selbst über die bezwingende Logik seiner
Schlussfolgerung.
    Vitell riss die
Augen auf. Er war jetzt panisch vor Angst. Dann zog er mehrmals an dem
perlenbestickten Band, das von der vertäfelten Decke hing. Otto hörte, wie
draußen eine Glocke Sturm läutete.
    Nach wenigen
Sekunden öffnete sich die Tür. Das Dienstmädchen trat ein und knickste. Dann
bemerkte sie, dass Vitell blutete. »Geht es Ihnen nicht gut? Soll ich einen
Arzt rufen?«
    Fahrig tastete
Vitell sein Gesicht ab und starrte auf seine blutigen Fingerspitzen. »Es … es
ist alles in Ordnung. Begleite die Herren bitte zur Tür.«
    »Wie Sie wünschen,
Herr Kommerzienrat. Wenn Sie mir bitte folgen wollen?«
    Otto bewegte sich
keinen Millimeter. »Bevor ich gehe, will ich Sie noch eines wissen lassen. Wenn
Rieke etwas zustößt, ziehe ich Sie persönlich zur Verantwortung.«

Auf der italienischen Nacht in Schmitts Colosseum
    Zu seiner
Bestürzung stellte Vitell fest, dass nicht nur im Lustgarten, sondern auch im
Kastanienwäldchen zahlreiche Gendarmen patrouillierten. Während er sich schnell
mit einem Taschentuch den Schweiß aus dem Nacken wischte, überlegte er
angestrengt, wo er ansonsten eine Frau fand, die ihn ohne großes Geschrei zu
seiner Kutsche begleiten würde. Ihm fiel nur Schmitts Colosseum ein. Hastig
lief er weiter zu dem berühmt-berüchtigten Vergnügungslokal. Kaum hatte er
seinen Fuß über die Schwelle gesetzt, da nahm auch schon eine junge Frau
Tuchfühlung auf und flüsterte: »Für fünfzig Pfennige lass ich mich knutschen.«
    Vitell tastete sie
mit fiebrigen Augen ab. Sie hatte schwarzes glattes Haar, eine sehr helle Haut
und eine Himmelfahrtsnase. Ihr Lippenstift war verwischt, sie trug eine
Polkajacke, war mit allerlei billigem Schmuck behängt und entsprach in keiner
Weise seinen Vorstellungen.
    »Verschwinde«,
sagte er.
    Zur Vollendung
seines Plans war nur noch ein einziger Schritt notwendig, sodass er sich nach
langem Ringen erlaubt hatte, noch ein letztes Mal schwach zu werden, um für das
große Finale Kraft zu tanken. Nur ein einziges Mal wollte er noch fühlen, was
für ihn die Quelle des Seins war. Die Höhepunkte, die er nun endlich wieder
erlebte, waren nicht vergleichbar mit früheren Orgasmen. Die Wärme dehnte sich
nicht nur im Unterleib aus, sondern ergriff auch seinen Kopf, ja den gesamten
Körper. Auch klang die Ekstase nicht so schnell ab wie früher. Selbst mehrere
Stunden danach war er noch von einer Glückseligkeit erfüllt, wie er sie in
jungen Jahren nie erlebt hatte. Natürlich war ihm klar, dass Dr. Sanftleben ihn
nun für den Mörder hielt, aber er hatte Vorkehrungen getroffen, um dem
Wissenschaftler seinen frechen Auftritt im Club von Berlin heimzuzahlen. Schon
bald würde er sein blaues Wunder erleben.
    In Schmitts
Colosseum war heute italienische Nacht, und als Vitell den Ballsaal betrat, sah
er überall südländische Blumengedecke, Olivenbäume und Luftschlangen in den
Farben der italienischen Trikolore. Eine kleine Kapelle war in Landestracht
gekleidet und spielte Opernmelodien von Giuseppe Verdi. Kavaliere führten ihre
Bekanntschaften zur Tanzfläche, und zahllose Füße trampelten, stampften oder
schwebten über den Boden. Aus einem kleinen Springbrunnen sprudelte Lambrusco,
und gegen ein geringes Entgelt konnte man dort sein Glas füllen.
    Vitell entdeckte
zahlreiche Huren. Ein Hotelpage feilschte mit einem rotwangigen Mädchen, damit
es mit seinem Gast, einem syphilitischen Greis, mitging, der an einem der
kleinen Tische saß, sich auf seinen Gehstock stützte und mehrmals verbeugte.
Ein anderes Mädchen ließ sich von einer Kupplerin Haus- und Wohnungsschlüssel
aushändigen, und eine dritte kehrte gerade mit erhitzten Wangen in den Saal
zurück. Offenbar hatte sie einen Ab- stecher ins

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