Mord unter den Linden (German Edition)
sie ausgenutzt
haben.
Versteh
mich nicht falsch! Ich will kein Mitleid von Dir und bin mir bewusst, dass ich
mich früher oder später für meine Taten verantworten muss, aber wenn ich in die
Vergangenheit reisen könnte, um meinem Leben eine Wendung zu geben, würde ich
weder andere Eltern wählen noch der Begegnung mit ihm ausweichen, nein, ich
würde in die frühen Morgenstunden des letzten Sonntags reisen und bei Dir
bleiben.
Denkst
Du noch manchmal daran, wie wir am Bootsanleger saßen und den Anbruch des Tages
erwarteten? Alles war so friedlich und so rein. Ich hatte das Gefühl, als
könnte ich allen Schmutz abstreifen. Für mich waren das die schönsten Momente
meines Lebens. Du hast mir das Gefühl gegeben, etwas wert zu sein. Ich kann gar
nicht ausdrücken, wie sehr ich die Zeit mit Dir genossen habe und wie sehr du
mir fehlst! Bei Dir habe ich mich so sicher gefühlt. Vor nichts und niemandem
hatte ich Angst.
Jetzt
fragst Du Dich bestimmt: Warum schickt sie mir diesen Brief? Warum kommt sie
nicht her und erzählt mir alles selbst? Du hast keine Vorstellung davon, wie
gern ich heute bei Dir wäre – auch wenn ich Gefahr liefe, von Dir abgewiesen zu
werden –, aber es geht nicht.
Er
lässt Dein Haus überwachen. Sie folgen Dir auf Schritt und Tritt. Sie sind auch
da, wenn Du sie nicht siehst. Wenn ich zu Dir käme, brächte ich uns beide in
Gefahr. Deshalb habe ich den Jungen geschickt. Ich bete zu Gott, dass sie ihn
nicht abfangen, bevor er den Brief abgibt.
Du
bist meine letzte Hoffnung. Ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll.
Überall hocken seine Lakaien: am kaiserlichen Hof, im Polizeipräsidium und in
der Wirtschaft. Ich weiß nicht, welche Druckmittel er benutzt, aber sie sind
alle so begierig darauf, sich ihm gefällig zu zeigen. Das Netz ist so dicht
geknüpft, dass ich es nicht wage, auf die Straße zu gehen. Hinter jeder
Hausecke vermute ich einen von seinen Leuten.
Otto,
noch ist Zeit, mich zu vergessen. Mir ist klar, wie sehr ich Dich verletzt
habe. Ich bin Deiner nicht würdig, und wenn Du diesen Brief wegwirfst, wirst du
nie mehr von mir hören. Möchtest Du jedoch weiterlesen, so komme ich nun zum
eigentlichen Anliegen meines Briefes. Also, halte kurz inne und triff deine
Entscheidung.
Du
liest weiter.
Dann
höre an, was ich mir überlegt habe.
Ich
will vor Gericht aussagen. Allerdings werde ich die Verhandlung nur erleben,
wenn wir mit größter Vorsicht vorgehen. Den Behörden traue ich nicht, weil er
überall Polizisten kennt. Zu leicht wäre es, einen Unfall zu inszenieren, bei
dem ich ums Leben komme. Nein, ich habe mich entschieden, endlich erwachsen zu
werden und selbst für meine Sicherheit zu sorgen. Ich bin in dieser Stadt
aufgewachsen und kenne zahlreiche Schlupflöcher. Alles, was ich brauche, ist
ein wenig Geld – und darum bitte ich Dich.
Als
Übergabeort schlage ich die Insel Sandwerder * vor, weil niemand damit rechnet, dass Du Dein
Grundstück mit einem Boot verlässt. Ich erwarte Dich heute um Mitternacht bei
der kleinen Aussichtsplattform auf der Südwestseite. Mit fünfhundert Mark
sollte ich einige Monate durchhalten.
Übrigens
habe ich vor meiner Flucht sein Tagebuch entwendet, das schreckliche
Zeichnungen und bizarre Notizen enthält, die ihn mit den Morden in Verbindung
bringen. Dieses Beweisstück möchte ich Dir übergeben, damit Du etwas gegen ihn
in der Hand hast. Während ich mich verstecke, kannst Du dafür sorgen, dass er
endlich hinter Gitter kommt.
Bitte
weihe niemanden in unser Treffen ein und komme allein.
Mein
Leben liegt in Deiner Hand.
Bitte
verzeih mir,
Rieke
P.S. : Ich wünsche
mir so sehr, dass wir uns unter anderen Umständen kennengelernt hätten. Und ich
träume davon, dass wir noch einmal einen so wunderbaren Tag erleben wie auf
unserem gemeinsamen Bootsausflug auf der » MS Karoline« .
»Was ist mit
dir?«, fragte Ferdinand. »Von wem stammt der Brief?«
Als Moses den Arm
nach den Blättern ausstreckte, zögerte Otto kurz, schließlich hatte Rieke ihn
gebeten, niemanden einzuweihen. Dann besann er sich: Moses und Ferdinand
verdienten sein absolutes und uneingeschränktes Vertrauen. Also gab er ihnen
den Brief.
Die beiden
steckten die Köpfe zusammen und lasen. Otto lehnte sich zurück. Er beobachtete
einige Vögel, die über das glitzernde Wasser segelten.
Als Ferdinand
fertig war, hob er den Kopf und sagte: »Ich frage mich, warum sie Vitell nie
beim Namen nennt.«
»Das liegt doch
auf der Hand«,
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