Mord unter den Linden (German Edition)
ihm freundlich zu und ließ ihn unbehelligt weitergehen.
In »Klein-Sanssouci«
Otto, Ferdinand
und Moses waren viel zu aufgeregt gewesen, um Schlaf zu finden. Sie hatten die
ganze Nacht diskutiert, ob der Commissarius, den sie noch gestern Abend
aufgesucht hatten, die richtige Taktik gewählt hatte. Mittlerweile saßen sie
auf der Terrasse, um den Sonnenaufgang und ein herzhaftes Frühstück zu
genießen.
»Ich verstehe
einfach nicht, warum Funke keinen Durchsuchungsbefehl erwirkt«, sagte Moses.
»Vielleicht findet er bei Vitell Hinweise auf die Morde.«
»Wo sollte er denn
mit der Durchsuchung anfangen?«, erwiderte Otto. »Vitell besitzt in Berlin und
Umgebung fünf Villen, mehrere Mietshäuser, eine Fabrik und zahlreiche
Kohlelager. Um das alles gleichzeitig zu durchsuchen, müsste er ein
Polizeikommando mobilisieren, das mindestens Kompaniestärke hat.«
»Daran sollte es
nicht scheitern«, sagte Ferdinand.
»Du hast natürlich
recht, aber für eine solche Maßnahme ist es wahrscheinlich noch zu früh«,
meinte Otto. »Die Vorbereitungen würden viel zu viel Aufmerksamkeit erregen und
dem Polizeipräsidenten nicht verborgen bleiben. Er ist mit Vitell eng
befreundet, und wenn er von einer Durchsuchung erfahren würde, würde er dem
Commissarius sicherlich sofort befehlen, alle Maßnahmen gegen den Kommerzienrat
einzustellen. Nein, ich glaube, dass es bei Vitells Zustand nur noch eine Frage
der Zeit ist, bis er einen gravierenden Fehler begeht. Und der Commissarius tut
gut daran, solange zu warten.«
Sie schwiegen
einen Moment. Dann fragte Ferdinand unvermittelt: »Wie würdest du dich
eigentlich verhalten, wenn Rieke plötzlich auftauchen würde?«
Obwohl Otto geahnt
hatte, dass sein Bruder oder Moses ihn das früher oder später fragen würden,
hatte er keine Antwort darauf. Glücklicherweise erschien in diesem Moment das
Dienstmädchen, und er gewann etwas Zeit. Lina stellte ein großes Tablett ab und
verteilte diverse Platten mit knusprigem Speck, kaltem Braten, eingelegten
Heringen und Bratwürstchen sowie einen Brotkorb und ein Glas mit
Spreewaldgurken auf dem Tisch. Dann klemmte sie sich das Tablett unter den Arm
und ging wieder.
Erst jetzt
bemerkte Otto, wie hungrig er war. Eilig schaufelte er sich Bratenstücke auf
den Teller und wurde dabei von Ferdinand und Moses mit Argusaugen beobachtet.
Endlich gab er den Löffel an Ferdinand weiter und schob sich mit einer Gabel
Bratwürstchen und Speck auf den Teller.
»Lass uns auch
noch was übrig«, sagte Moses.
Otto griff nach
einem Messer und wollte gerade ein Stückchen Bratwurst mit englischem mustard bestreichen, als sie die Türglocke schellen hörten.
Otto sah irritiert auf und legte das Messer zurück auf den Teller.
»Erwartest du
Besuch?«, fragte Ferdinand.
»Nicht um diese
Uhrzeit«, erwiderte Otto.
»Vielleicht ein
Lieferant?«, mutmaßte Moses.
»Von den
Lieferanten kommt keiner vor zehn Uhr morgens.«
Sie schwiegen und
widmeten sich wieder dem Frühstück. Dabei lauschten sie angestrengt auf die
Vorgänge im Inneren des Hauses. Nach wenigen Minuten betrat Lina die Terrasse
und sagte: »Eben war ein Junge an der Tür und hat eine Botschaft abgegeben.«
»Wer hat ihn
geschickt?«, fragte Otto.
»Das wollte er
nicht sagen. Und als ich ihm ein Glas Milch angeboten habe, ist er schnell
weggerannt. Aber er hat das hier dagelassen.« Lina reichte Otto ein
elfenbeinfarbenes Briefkuvert.
Er drehte den
Umschlag hin und her und sah ihn stirnrunzelnd an. Nirgends wurde ein Absender
genannt. Rasch erbrach Otto das rote Siegel, mit dem das Kuvert verschlossen
war, und zog vier Bögen heraus. Sie waren beidseitig beschrieben. Die
Buchstaben waren groß, rund und kippten nach links. Otto erkannte sofort, dass
der Brief von Rieke stammte. Während er zu lesen begann, hämmerte sein Herz vor
Aufregung. Bestand doch noch Hoffnung? Entschied sie sich nun endlich für ihn?
Als er zum Ende kam, war er aufgewühlt. Er konnte kaum glauben, was Rieke ihm
geschrieben hatte.
Berlin,
im August 1890
Liebster
Otto,
hier
sitze ich nun, in diesem stinkenden, verlausten Versteck und sterbe vor Angst.
Ich bin mir sicher, dass er nicht eher ruhen wird, bis er mich gefunden hat.
Was dann geschieht, wage ich mir nicht auszumalen.
In
meinem Leben gab es viele Katastrophen. Einige habe ich selbst verschuldet, für
andere konnte ich nichts. Wenn ich zurückblicke, empfinde ich Scham und Zorn.
Scham wegen meiner Charakterschwäche und Zorn auf jene, die
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