Mord unter den Linden (German Edition)
sagte Moses. »So kann der Brief später nicht als Beweismittel
gegen ihn verwendet werden. Solange sie nicht ›Vitell‹ schreibt, kann mit ›er‹
jedermann gemeint sein. Und das deutet darauf hin, dass da irgendetwas nicht
stimmt.«
»Außerdem würde
mich interessieren«, sagte Ferdinand, »wie sie an so teures Briefpapier kommt.
Sie schreibt doch ganz am Anfang, dass ihr Versteck stinkt und verlaust ist.«
»Das stimmt«,
sagte Moses. »Und wenn sie wirklich so knapp bei Kasse ist, hätte sie eher auf
altes Zeitungspapier oder auf ein Stück Karton geschrieben.«
»Otto«, sagte
Ferdinand, »bitte versteh mich nicht falsch. Du weißt genau, wie sehr Rieke mir
gefallen hat, aber mir scheint, dass sie von Vitell benutzt wird. Er hat sie
vermutlich gezwungen, diesen Brief zu schreiben. Er will dir damit eine Falle
stellen.«
Otto nickte nur
gedankenversunken und schaute weiterhin auf den See hinaus. Vor Jahren hatte er
sich angewöhnt, Menschen, die er mochte, nicht mit den Augen des
Wissenschaftlers zu betrachten und sie in keine phänomenologischen,
physiognomischen oder psychologischen Kategorien einzuordnen. Trotzdem drängten
sich ihm nun einige Überlegungen auf.
Otto war fest
davon überzeugt, dass Verhalten erlernt wurde. Ein Mensch beispielsweise, der
seine größten Erfolge seinem aggressiven Vorgehen verdankte, würde nicht von
einem Tag auf den anderen höflich und diplomatisch agieren, sondern im
bewährten Fahrwasser bleiben, eben weil er gelernt hatte, dass er so zum Ziel
kam.
Rieke war
zeitlebens von älteren Männern dominiert worden, von ihrem Vater und von
Vitell, die ihr alle wesentlichen Entscheidungen abgenommen hatten. Sie war
abhängig von anderen und unselbstständig. Selbst wenn sie sich nun wirklich
dazu entschlossen hätte, alles hinter sich zu lassen, würde sie diesen großen
Schritt nicht allein in Angriff nehmen. Sie würde sich an einen Mann ihres
Vertrauens wenden, um sich von ihm helfen zu lassen.
War er dieser
Mann? Hatte er ihr Vertrauen gewonnen? Wandte sie sich mit diesem Brief an ihn,
um ein neues Leben anzufangen?
»Was guckst du so,
Otto?«, fragte Moses. »Ich glaube auch, dass es eine Falle ist.«
»Ich glaube es
nicht nur«, sagte Otto, »sondern ich weiß es.«
»Warum?«, fragte
Ferdinand. »Woher nimmst du diese Sicherheit?«
»Rieke hat etwas
getan, was für sie ein sehr großer und bedeutender Schritt gewesen sein muss«,
erwiderte Otto. »Sie hat sich gegen Vitell entschieden, indem sie mir heimlich
zu verstehen gibt, dass der Brief eine Falle ist.«
»Was meinst du
damit?«, fragte Moses.
»Vor einigen Tagen
haben wir einen Bootsausflug unternommen. Doch nicht mit der › MS Karoline‹, wie sie schreibt, sondern mit der › MS Augusta‹. Ich bin mir sicher, dass sie sich an den
richtigen Namen erinnert, weil sie das Boot selbst ausgesucht und mir den
Ausflug vorgeschlagen hat. Also hat sie ganz bewusst einen Fehler eingebaut, um
mich zu warnen.«
Ferdinand
überlegte eine Weile und fragte schließlich: »Was wirst du jetzt unternehmen?«
Auf dem Wannsee
Den ganzen Tag
über hatte Otto Vorbereitungen getroffen. Als er kurz vor Mitternacht hinunter
zum Wannsee ging, tauchte der Mond den Garten in ein gespenstisches Licht. Auf
dem Bootsanleger blieb er stehen und schaute noch einmal zurück. Die Fassade
von »Klein-Sanssouci« schimmerte silbergrau. Die Villa hatte ihm vom ersten Tag
an Sicherheit geboten, sie war sein Refugium, wo er Ruhe fand. Hoffentlich
kehrte er wohlbehalten hierher zurück.
Otto kniete sich
hin und löste die Leine, mit der sein Ruderboot festgemacht war. Als er in das
Boot sprang, platschte das Wasser laut gegen die Pfähle. Er stieß sich mit den
Händen ab und trieb hinaus auf den See. Schwankend setzte er sich auf die
Mittelbank, ergriff die Ruder und spuckte in die Hände. Dann begann er zu
rudern. Das Boot wurde schneller, und das Wasser schäumte am Kiel auf.
Über ihm öffnete
sich das Universum. In der unendlichen Schwärze funkelten nur vereinzelt
Sterne. Wie immer, wenn er sich diese unfassbaren Dimensionen bewusst machte,
musste Otto daran denken, dass die Kirche den Menschen Unsterblichkeit
versprach. Er glaubte jedoch nicht an das Paradies, für ihn gab es nur das
ureigenste Prinzip der Natur, nach dem der Körper in den Kreislauf
zurückkehrte, aus dem er geboren wurde.
Otto drehte den
Kopf nach hinten, um seinen Kurs zu kontrollieren. Bis nach Sandwerder waren es
noch etwa tausend Meter. Über den Bäumen
Weitere Kostenlose Bücher