Mord unter den Linden (German Edition)
ragte der imposante Wasserturm wie ein
Wachsoldat auf verlorenem Posten auf. Otto korrigierte die Richtung etwas nach
steuerbord und dachte an ein Zitat des griechischen Philosophen Epikur, über
den er an der Universität eine Vorlesung gehört hatte und dessen kluge Worte
ihn schon oft getröstet hatten: »Der Tod geht mich eigentlich nichts an, denn
wenn er ist, bin ich nicht mehr, und solange ich bin, ist er nicht.«
Mit kraftvollen
Bewegungen ruderte Otto weiter. Dann zerteilte der Bug des Ruderbootes endlich
den Röhrichtgürtel um Sandwerder und lief knirschend auf Grund. Otto holte die
Riemen ein, sprang ins seichte Wasser und watete zum Bug. So leise wie möglich
zog er das Boot unter die herabhängenden Äste. Die letzten Meter musste er zu
Fuß gehen.
In der Bellevuestraße 18
Ich muss hier
raus, dachte Rieke. Ich habe schon viel zu lange gezögert.
Sie stand im
obersten Stockwerk von Vitells Stadtvilla an einem Fenster und spähte in die
Nacht. Vor Tagen schon hatte Karl sie hier eingesperrt. Da hatte sie endgültig
begriffen, dass er wahnsinnig war. Er war schon seit Wochen kaum noch
wiederzuerkennen, was zweifellos mit den Drogen zusammenhing, die er immer
öfter nahm. Nun hatte sie den Eindruck, dass er kaum noch wusste, wer sie
eigentlich war. Und wenn er tatsächlich vergessen haben sollte, was sie einmal
verbunden hatte, wäre er zu allem fähig.
Der Kemperplatz
unter ihr lag verlassen da, dahinter begann der Tiergarten. Wenn sie es dorthin
schaffte, wenn sie das Dickicht erreichte, wenn es ihr gelingen sollte, mit den
Schatten zu verschmelzen, dann wäre sie in Sicherheit. Nur, wie sollte sie so
weit kommen? Die Tür war abgeschlossen, und auf dem Gang wachte Jewgeni, Karls
Leibdiener. Unter ihr ging es neun Meter in die Tiefe. Vor dem Fenster gab es
kein Regenabflussrohr, keine Mauervorsprünge oder Gerüste, nichts, was ihr
geholfen hätte, hinunterzuklettern. Und einen Sprung würde sie mit
Knochenbrüchen, ja wahrscheinlich sogar mit dem Leben bezahlen. Die Lage war
aussichtslos, alle Fluchtwege waren versperrt.
Verzweifelt
berührte sie den kleinen Finger ihrer linken Hand und zuckte vor Schmerz
zusammen. Das oberste Glied stand in einem unnatürlichen Winkel ab und hatte
sich schwarzviolett verfärbt. Nur einmal hatte sie probiert, die Fingerkuppe
gerade zu biegen. Doch der Schmerz war zu heftig gewesen, und es hatte wohl
eine halbe Stunde gedauert, bis das Pulsieren in ihrem Finger wieder
nachgelassen hatte.
Wie leicht es war,
meinen Widerstand zu brechen, dachte Rieke beschämt. Nur ein paar wüste
Drohungen, eine rasche Bewegung und der jäh aufflammende Schmerz hatten genügt,
um sie in Todesangst zu versetzen. Ohne weitere Gegenwehr hatte sie sich an den
Schreibtisch gesetzt und den Brief geschrieben. Der Anfang war ihr nicht schwergefallen,
weil er ihre wahren Empfindungen widerspiegelte, aber die letzten Absätze hatte
ihr Karl diktiert. Warum hatte er ihr nicht einen Finger der rechten Hand oder
am besten gleich die ganze Hand gebrochen? Dann hätte sie den Füller nicht
halten können. Dann hätte sie ihre Selbstachtung bewahren können.
Wenigstens hatte
sie genügend Geistesgegenwart besessen, um Otto zu warnen. Sie konnte nur
hoffen, dass er sich an den Bootsnamen erinnerte und ihre Worte richtig
deutete. Ansonsten …
Sie spürte, wie
sich ihre Augen mit Tränen füllten. Es war alles so aussichtslos, und wenn sie
an Karl dachte, wurde sie noch trauriger. Wie hatte er sich nur so verändern
können? Was war nur aus ihm geworden?
Vor fünf Jahren
hatte er sie, als sie sich hatte umbringen wollen, aus der Spree gezogen und
ihr so das Leben gerettet. Noch in dieser Nacht hatte sie gewusst, dass er sich
fortan ihrer annehmen würde. Für ihn war sie eine Schwester im Leid, eine
Gefährtin in der Dunkelheit, ein menschlicher Fixpunkt, der keine Bedrohung
darstellte. Sie hatten nie darüber gesprochen, aber Rieke war davon überzeugt,
dass er als Kind ebenfalls furchtbare Dinge erlebt haben musste. Sie waren
beide Gebrandmarkte, und das Wissen darum hatte sie zu Verbündeten werden
lassen.
Fünf Jahre lang
hatte sie sich auf seine Unterstützung verlassen können. Er hatte ihr nicht nur
die Stellung als Dienstmädchen im Club von Berlin und später das Engagement am
Belle-Alliance-Theater verschafft, nein, er hatte vor allem ihren Vater so
eingeschüchtert, dass er sie nicht mehr missbrauchte. Niemand hatte sich jemals
so für sie eingesetzt. Sie verdankte ihm so viel, doch
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