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Mord unter den Linden (German Edition)

Mord unter den Linden (German Edition)

Titel: Mord unter den Linden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Pieper
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jetzt verlor er den
Verstand und sperrte sie ein und tat ihr weh.
    Dabei hatte Rieke
gemerkt, wie weit er sich schon von ihr entfernt hatte. Früher hatte sie ihn
immer verstanden. Mittlerweile ahnte sie nicht einmal mehr, welche Dämonen ihn
antrieben und was ihm als Nächstes in den Sinn kommen würde. Das Kokain
beherrschte ihn völlig und veränderte seine Persönlichkeit. Im Rausch war er
unberechenbar. In der vergangenen Nacht hatte er ihr den kleinen Finger
gebrochen, vielleicht kam er morgen auf die Idee, ihr die Kehle
durchzuschneiden.
    Rieke unterdrückte
ein Schluchzen und biss sich auf die Unterlippe. Sie hatte keine Ahnung, wohin
Karl gegangen war und wann er zurückkehren würde, aber sie fühlte, dass ihr
nicht mehr viel Zeit blieb. Ich muss endlich hier raus, dachte sie. Mir muss
etwas einfallen.
    Sie könnte über
das Dach klettern. Vielleicht befand sich auf der Rückseite des Hauses eine Leiter,
über die sie hinabsteigen konnte. Oder sie konnte durch eines der anderen
Fenster schlüpfen, die Treppe hinunterschleichen und durch die Haustür
verschwinden. Doch schon von der Vorstellung, auf dem Dachfirst zu balancieren,
wurde ihr schwindelig, sodass sie den Plan aufgab.
    Es muss anders
gehen, dachte Rieke. Sie setzte sich hin und zermarterte sich das Hirn. Draußen
hörte sie Jewgeni schnarchen. Ob sie ihn um Hilfe bitten sollte? Nein, er war
seinem Herrn hündisch ergeben und führte alle seine Befehle mit Eifer aus. Doch
dann kam Rieke eine andere Idee: Jewgeni verfügte zwar über die Kraft eines
Muskelmanns auf dem Jahrmarkt, aber sein Horizont reichte kaum weiter als bei
einer Eintagsfliege. Es musste doch einen Weg geben, ihn zu übertölpeln.
    Hektisch suchte
Rieke mit den Augen den Raum ab. Ein Bett, ein Schrank, ein Tisch, ein Stuhl,
ein kleiner Kachelofen, Kienspäne und ein leerer Kohlekorb. Nichts, was ihr
helfen könnte, ihren Bewacher auszutricksen.
    Moment!
    Sie starrte die
Petroleumlampe an, die auf dem kleinen Nachttischchen stand. Wenn Jewgeni die
Tür nicht freiwillig öffnet, muss ich ihn zwingen, dachte sie. Zuerst vage,
doch dann immer klarer nahm ein Plan Gestalt an. Er war tollkühn und würde
vielleicht ihr Ende bedeuten, aber sie musste das Risiko eingehen.
    Entschlossen lief
Rieke zum Bett und formte Decken und Kissen so, als würde jemand darin liegen.
Das Wummern in dem gebrochenen Finger bemerkte sie kaum. Dann schraubte sie den
Blechuntersatz der Lampe ab und schüttete das Petroleum über die Decke. Sie
riss ein Schwefelholz an und warf es auf das Bett. Die Flammen züngelten in die
Höhe und krochen über die Decke. Dann hob sie mit der rechten Hand den Stuhl an
und ließ ihn mehrmals auf den Boden krachen, bis er entzweibrach.
    Jewgeni erwachte durch
den Lärm und hämmerte gegen die Tür. »He, Ruhe da!«
    Unbeeindruckt nahm
Rieke ein Stuhlbein und schob die übrigen Stuhlreste unter den Schrank. Dann
stürzte sie zur anderen Seite des Raumes und kauerte sich in eine Ecke. Sie
spürte die Hitze des Feuers. Schwarzer Rauch wirbelte hoch, sammelte sich unter
der Decke und floss die Wände herab.
    Erneut hämmerte
Jewgeni an die Tür. Rieke drückte sich den Unterrock vor Mund und Nase. Sie
ignorierte das Brennen in den Augen und blinzelte mehrmals, um die Tür trotz
des Rauchs im Blick zu behalten. Fest umklammerte sie ihre Waffe.
    Da drehte sich der
Schlüssel geräuschvoll im Schloss. Die Tür öffnete sich, zuerst einen
Spaltbreit, dann flog sie auf und knallte heftig gegen die Wand.
    »Was ist hier
los?«, schrie Jewgeni und stürzte zum Bett. »Dummes Mädchen, du dummes
Mädchen!«
    Rieke sprang auf
und holte mit dem Knüppel aus.
     
     

Auf Sandwerder
    Otto hielt einen
Moment inne und spähte in die Dunkelheit. Erlen und Weiden wuchsen am Ufersaum.
Links von ihm, in nördlicher Richtung, ragte die Sommerresidenz des
Fondsmaklers Max Bossart in den Nachthimmel. Die Villa war erst vor wenigen
Jahren erbaut worden und war neben Wessels Wirtschaftshof das einzige
Wohngebäude auf der Insel. Wegen ihres frühmittelalterlichen Stils wurde sie
Schwanenburg genannt. Alle Fenster waren dunkel, nirgends regte sich Leben.
    Otto atmete tief
durch und wandte sich dem Wald am Fuße des Hangs zu. Dort waren Eichen, Linden,
Ahorn und Robinien frisch angepflanzt worden, außerdem einige Säulenpappeln. Die
jungen Stämme wirkten wie Totempfähle, und das wogende Blätterdach schien Otto
eine Warnung zuzuraunen. Es kostete ihn einige Überwindung, die unheimlichen
Eindrücke

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