Mord unter Freunden - Ernestam, M: Mord unter Freunden - Kleopatras Kamm
auch nur, um mich zu verteidigen. Mama erzählte so wenig und hätte auch nicht mehr preisgegeben, wenn ich
gefragt hätte. Recht bald lernte sie Papa kennen und blieb in Ångermanland in seinem Heimatdorf. Innerhalb eines Jahres kam ich zur Welt, und vielleicht war ich ja auch der Grund, warum sie überhaupt zusammenzogen. Tatsache ist, dass ich es mir nie gestattet habe, darüber nachzudenken. Ich meine darüber, wie der Zeitpunkt meiner Geburt mit dem Zeitpunkt ihres Kennenlernens zusammenpasste. Jedenfalls waren die beiden sehr unterschiedlich. Papa war Forstmeister, ein Mann des Waldes, wenn man es einmal etwas feierlicher ausdrücken will. Groß und kräftig. Auf eine grobschlächtige Art sicher auch attraktiv. Mama war eine zartgliedrige Französin.«
»War es eine glückliche Ehe?«
Der Wind nahm zu. Der Wind, der Bäume entwurzelte und im Bach herumwirbelte.
»Was ist eigentlich Glück? Ich kann das nur anhand meiner Beobachtungen beantworten. Ich sah ein sehr ungleiches Paar, das zusammen wohnte, als hätten beide akzeptiert, dass ihnen dieses Los im Leben zugefallen sei. Jedenfalls Mama. Ich kann nicht so recht erklären, wie ich das meine. Aber bei Mama hatte ich immer das Gefühl, dass sie nicht sie selbst war, sondern dass sie sich selbst spielte. Sie spielte die Französin, die nach Schweden gezogen war und an der Schule als Musiklehrerin arbeitete. Ich kann nicht entscheiden, ob sie glücklich oder unglücklich war. Nur dass sie gewissermaßen … abgeschaltet war.«
Stella streckte den Arm aus und bekam eine Decke zu fassen, die auf dem Boden lag. Sie breitete sie über ihnen aus, und er spürte die raue Wolle an den nackten Beinen.
»Und dein Vater?«
Fredrik zog die Decke zurecht, um ihr nicht in die Augen schauen zu müssen.
»Er lebte nach seinen Regeln, kann man sagen. Ich war alles, was er sich nicht gewünscht hatte. Er hatte sich ein energisches Kerlchen gewünscht und bekam ein verweichlichtes,
verängstigtes Bürschchen mit Sinn für Blumen und Spitze. Vielleicht lag es ja an dem Tod meiner Schwester.«
Stella sah ihn entsetzt an.
»Ist deine Schwester gestorben? Wie tragisch.«
»Sie war recht klein, als es passierte. Ich lernte sie also nie kennen. Aber irgendwie war sie auf eine merkwürdige Weise doch Teil der Familie. Manchmal glaube ich, dass ich die Trauer meiner Eltern dadurch abschwächen wollte, dass ich gleichzeitig Bruder und Schwester war. Sowohl der kleine Junge als auch das kleine Mädchen. Es endete damit, dass ich etwas dazwischen wurde.«
»Gefällt es dir deswegen so gut im Fata Morgana?«
»Hat Michael das erzählt?«
»Er hat eigentlich überhaupt nichts erzählt. Nur dass ihr euch dort kennengelernt habt.«
Fredrik sah, dass ihre Augen ohne jedes Misstrauen waren, unschuldig wie die der Kaninchen.
»Mein Vater hat mich einmal bestraft«, sagte er zögernd, unsicher, ob er es erzählen sollte, aber irgendwie auch nicht in der Lage, es für sich zu behalten. »Ich tat etwas, dessentwegen er sich für mich schämte. Dafür wollte er mir eine Lektion erteilen. Er spielte Verstecken mit mir, und als es mir nicht gelang … mich gut genug zu verstecken, ließ er meine Kaninchen frei, sodass diese in den Wald liefen.«
Er konnte nicht mehr erzählen. Wie gerne er auch sein Gesicht wie vorhin an ihre Brust gedrückt und ihr alles erzählt hätte. Alles. Er schaute hoch und sah, dass es trotzdem genug gewesen war. Sie war ernst.
»Wie schrecklich. Du musst sehr verzweifelt gewesen sein. Wie alt warst du da?«
»Etwa zehn. Ich weiß nicht mehr so genau. Wie auch immer, so lernte ich mit der Zeit zumindest, einen richtigen Mann vorzutäuschen. Wir verstanden uns im Verlauf der Jahre besser. Alle drei.«
»Leben sie noch?«
»Mama schon. Papa ist vor etlichen Jahren bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen. Jemand hat versehentlich einen Schuss abgegeben. Vielleicht sogar er selbst. Man ging der Sache nie auf den Grund.«
»Und deine Mutter?«
»Sie wohnt immer noch dort im Norden. Das ist die einzige Wirklichkeit, zu der sie sich verhalten kann. So sehe ich das, sie vermutlich auch.«
Stella lehnte ihren Kopf an seine Brust, und er sah ihr Gesicht nicht mehr. Vorsichtig strich er ihr übers Haar und überlegte sich, was sie wohl dachte.
»Das klingt traurig«, sagte sie. »Irgendwie klingt das alles todtraurig, obwohl ich nicht recht erklären kann, warum. Es klingt so einsam. Ich hatte zwar selbst keine Geschwister, aber Mutter und Vater und eine Unmenge
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