Mord unter Freunden - Ernestam, M: Mord unter Freunden - Kleopatras Kamm
sich bekam, erkannte sie, dass die Freundlichkeit ihrer Gastgeber auch nur geschäftsmäßig war und in ein paar Tagen mit der Rechnung abgegolten sein würde.
Am zweiten Abend zwang sie sich, in den Pub zu gehen. Sie dachte, dass sich die feuchten Laken dann weniger distanziert anfühlen würden, wenn sie todmüde war und etwas getrunken hatte. Deswegen erkundigte sie sich, wo »traditional Irish music« gespielt würde, begab sich dorthin, bestellte ein Guinness und starrte, ohne eigentlich etwas zu sehen, auf die Musiker, um nicht merken zu müssen, dass die anderen Gäste sie und ihre Kleider anstarrten, die geradezu den Geruch von Einsamkeit absonderten. Einsamkeit , hatte sie gedacht. Warum konnte man die riechen? Warum war die so gefährlich? Warum waren gewisse Leute immer einsam, während andere das nie zu sein schienen? War sie angeboren? Oder wann hatte sie sich diesen Defekt zugezogen? Wenn Anna alleine gereist wäre, hätte es nicht mehr als ein paar Stunden gedauert, bis sie sich verschiedene Möglichkeiten der Begleitung hätte aussuchen können. Gutsituierte Familien wären bereit gewesen, sie zu adoptieren, Horden von Frauen hätten sie darum gebeten,
sie doch in ihren innersten Kreis aufnehmen zu dürfen, während die Männer sie verfolgt hätten wie eine Schar Lemminge, was schließlich zu unkontrollierten, blutigen Schlägereien geführt hätte.
David war einer der Musiker gewesen, die an diesem Abend in Mullarkey’s Bar spielten. Die Bühne stand allen offen, und sowohl Touristen als auch die Talente der Gegend ergriffen die Gitarren, die bereitstanden, um die anderen Gäste von ihrer Begabung zu überzeugen. Keiner der Musiker hatte sie sonderlich beeindruckt, bis er mit seiner eigenen Gitarre und einer Handvoll Flöten, die er auf einen Stuhl neben das Klavier legte, die Bühne betrat. Erst spielte er ein paar traditionelle Rocksongs, zu denen er mit einer rauen und etwas verlorenen Stimme sang. Sie betrachtete sein rotes Haar, seine hellen Brauen und das zerknitterte Hemd, das er über der Jeans trug, und fragte sich, welche Farbe seine Augen wohl hatten. Nach einer Weile legte er die Gitarre weg und rief zwei Leute aus dem Publikum auf die Bühne. Der eine setzte sich ans Klavier, und der andere griff sich eine alte Geige.
David wählte eine kleine, schmale Flöte, fingerte zerstreut an ihr herum und setzte sie dann an die Lippen. Die Töne der Flöte drangen direkt zu ihr durch, durchschnitten ihre Haut, ihre Knochen, Sehnen und Muskeln und trafen sie ins Herz, dort machten sie weiter, bis sie regelrecht in sich zusammenfiel. Erst als einer der Italiener sie fragte, ob alles in Ordnung sei, merkte sie, dass ihr Gesicht nass war. Tränen, die Schlacke des Körpers.
Mari zwang sich in die Gegenwart zurück und wandte sich an Fredrik.
»Du bist ein Mann. Ein Mann, der Frauen respektiert und liebt. Erklär mir, warum sich Männer so wie Elsa Karlstens Mann benehmen!«
Fredrik wischte sich mit einer Serviette den Mund ab und antwortete dann.
»Ich soll das besser verstehen, weil ich ein Mann bin, meinst du? Das glaube ich nicht. Dieses Verhalten finde ich genauso widerlich wie du, und das hat vermutlich nichts damit zu tun, dass ich ein Mann bin und du eine Frau. Ich verspreche, ich werde alles tun, um etwas zu finden, womit ihr geholfen werden kann. Ein Testament oder was auch immer. Aber das Schreckliche ist, dass sie sich vielleicht nicht hierher traut. Das scheint schon zu lange so zu gehen, und jetzt ist diese Frau alt und hat vermutlich keine Kraft mehr. Wer weiß, was sie hindert. Vielleicht nicht nur Angst, sondern auch veraltete Moralvorstellungen.«
Mari wollte etwas entgegnen, aber bevor sie noch etwas sagen konnte, steckte Jo ihren Kopf durch die Tür. Sie strahlte und wirkte glücklich, und mit ihr drang der Duft von frischgebackenem Kuchen durch die Tür.
»Ihr habt Besuch. Eine Elsa Karlsten, die sagt, sie müsse sofort mit euch über etwas Wichtiges sprechen.«
Anna sah Jo erstaunt an.
»Elsa Karlsten? Hier im Café? Schick sie rein.«
Jo verschwand, und Elsa Karlsten erschien nach einer Weile in der Tür.
Eine Frau mit Haltung, dachte Mari. Aber verängstigt. Geschmackvolle Bluse und Haare, die vielleicht nicht einmal gefärbt sind.
Elsa Karlsten nahm auf einem freien Stuhl Platz. Sie betrachtete die Regale mit Büchern über Jura, Wirtschaft, Gartenbau und Inneneinrichtung, dann hielt ihr Blick auf einem Werkzeugkasten in der Ecke inne.
Ihr eines Augenlid zuckte
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