Mord Unter Segeln
Griff ihres Koffers krampfhaft umfasst. Die vier Waschbetonstufen zum Eingang hoch waren ihr schwergefallen.
Früher war sie unbeschwert hergekommen. Früher, das war Oma, das war Kakao, das war Buddeln am Strand. Und das blöde Umziehen, wenn man die nassen Badesachen auszog, Omi ihr die trockenen hinhielt und sie die Sandfüße abschütteln musste, damit der Sand nicht gleich in der Unterhose landete und dann in ihrem Po.
Die Tür wurde geöffnet. »Komm rein«, sagte Peter, nahm ihr den Koffer ab und ging voran. Keine wirkliche Begrüßung. Sofort war Ilka enttäuscht, schalt sich aber gleich eine dumme Gans. Was hatte sie denn erwartet? Wie hätte er denn reagieren sollen in dieser Situation? Das Leben ist kein Wunschkonzert; dieser Spruch fiel ihr ein. Nein, ein Wunschkonzert war ihr Leben seit knapp achtzehn Jahren nicht mehr. Damals hatte sie feststellen müssen, dass es Dinge gab, auf die sie keinen Einfluss nehmen konnte. Dinge, bei denen sie machtlos war. Lange hatte sie gebraucht, um diese Tatsache hinnehmen zu können. Akzeptieren konnte sie es bis heute nicht.
Sie folgte ihrem Schwager in die Wohnung. Simone hatte nicht viel verändert. Keine Umbauten, zumindest nicht auf den ersten Blick. Der Flur war anders gestrichen, aber das Schild in Schiefer-Optik, das für ihre Oma so wichtig gewesen war, das hatte Simone hängen lassen. »Dass mir der Hund das Liebste ist, sagst du, oh Mensch, sei Sünde. Der Hund blieb mir im Sturme treu, der Mensch nicht mal im Winde.«
Ilka unterdrückte die Tränen, die in ihr aufstiegen. Sie durfte nicht weinen. Durfte nicht damit anfangen. Sie hatte lang genug und viel zu viel geweint. Jetzt musste sie stark sein. Für Peter und für Sophie.
Peter blieb vor einem der Zimmer stehen. »Ich hab das Bett neu bezogen. Lieb, dass du hergekommen bist«, sagte er ein wenig unbeholfen. Ilka stand ihm ebenso unbeholfen gegenüber. Wie gern hätte sie ihn jetzt in den Arm genommen und getröstet. Doch da war so viel zwischen ihnen.
»Ich hab heute früh beim Arzt angerufen«, sagte sie. Dann nahm sie ihren Koffer. Als sie mitten im Zimmer stand, drehte sie sich noch einmal um. »Es wird nicht mehr lang dauern.«
***
Oda stellte das Fahrrad in der Holtermannstraße in den dafür vorgesehenen Raum im Erdgeschoss, schloss es umständlich ab und sah sich um. Es fühlte sich bereits an wie Abschied nehmen. Und es tat eigenartigerweise weh. Denn sie hatte sich wohlgefühlt in diesem Haus und in ihrer Wohnung, selbst mit den Börgers über ihr, deren Kind am Wochenende zu Unzeiten mit dem Bobby-Car den Flur auf und ab brummte, die aber nie die kindliche Entwicklung durch Verbote einengen wollten und ziemliche Ökos waren. Hier hatten Alex und sie ein Zuhause gefunden. Und was kam nun?
Jürgen hatte sie verraten. Anders konnte sie das nicht bezeichnen. Er hatte ihre Beziehung nicht wirklich ernst genommen. Er hatte vor allem sie, Oda, nicht ernst genommen. Existenzielle Sachen verschwieg man nicht. Und eine Tochter war eine existenzielle Sache. Wann hätte er ihr wohl davon berichtet? Am ersten Abend in ihrem gemeinsamen Zuhause? Nach einem Monat? Einem Jahr? Hätte er ihr überhaupt jemals davon erzählt?
Oda steckte den Fahrradschlüssel in ihre Hosentasche und verließ den Fahrradraum, in dem es nach Gummireifen und abgestandenem Mief roch. Oben würde die nächste Herausforderung auf sie warten, denn sie glaubte im Leben nicht, dass Alex inzwischen Kisten gepackt, ausgemistet und aufgeräumt hatte. Aber das war jetzt ja egal. Langsam stieg sie die Stufen hoch und kam sich dabei vor wie eine alte, abgekämpfte Frau. Moment. Das war jetzt egal? Natürlich. Sie blieb auf dem Treppenzwischenabsatz stehen. Wie hatte sie das nur vergessen können? Sie zog ihr Handy aus der Tasche, suchte im Telefonbuch die Nummer ihrer Vermieterin und wählte. Es klingelte. Einmal, zweimal, dreimal, viermal. Nach dem sechsten Mal nahm jemand ab.
»Jäger.«
»Oda Wagner hier. Hallo, Frau Jäger.« Oda setzte sich auf den Treppenabsatz und schilderte ihr Dilemma. Private Einschnitte, Änderungen der geplanten Situation, kurz: »Es gibt ja noch keinen Nachmieter, und da würde ich gern die Wohnung zumindest für die nächsten drei Monate weitermieten. Wenn das geht und es Ihnen recht ist.«
»Natürlich. Das kann ich absolut verstehen.«
Auch Marianne Jäger hatte eine Ehe und so manch andere Beziehung hinter sich, wie man munkelte. Doch sie verfügte über das nötige Eigenkapital, um stets
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