Mord Unter Segeln
unterschiedlichsten Gründen. Bei mir war es der tote Bruder, bei dir die Tatsache, dass dein Gatte anderweitig Vater geworden war. Mann, Mann, Mann, was waren wir am Boden zerstört. Und nun sitzen wir hier zusammen, unterhalten uns über deinen neuen Fall, und es scheint, als ob wir die Traurigkeit, zumindest in ihrer allgegenwärtigen Präsenz, losgeworden wären. Und das finde ich klasse. Da fällt mir ein: Bist du denn inzwischen geschieden?«
»Nein, aber bald. Der Termin ist nächste Woche Freitag.«
»Nun doch so schnell. Wie geht's dir dabei? Hast du mittlerweile den nötigen Abstand?«
Christine schürzte die Lippen. »Weiß ich nicht. Einerseits ja, andererseits krieg ich die kalte Wut, wenn ich daran denke. Dann könnte ich ihm sonst was antun.«
Wiebke grinste. »Kannste ja. Nächsten Freitag, nach der Scheidung. Kannst ihm ja mal so richtig in die Klöten treten.«
»Wiebke!«
»Natürlich. Du machst so was nicht. Verdient hätte er das aber.« Wiebke griff erneut zur Weinflasche. »Und was ist nun mit Carsten?«
Christine konnte nicht verhindern, dass sich ein kleines Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete.
Inzwischen hatte die Dämmerung eingesetzt, nur vereinzelt hörte man noch Radfahrer oder Fußgänger auf der Straße entlanggehen, der Abend auf der Insel war eingeläutet, es wurde ruhiger. Christine genoss die Auszeit, die ihr der Unterschlupf bei Wiebke gewährte, das vertraute Beisammensein, die milde Sommerluft. Dieser Abend war für sie wie eine Art Atempause. Der Himmel war dunkelblau, ein paar Wölkchen schwebten in der Luft, von der untergehenden Sonne in einem fast schon kitschigen Rosé beschienen. Christine zuckte zusammen. »Was?«
»Ich hab nix gesagt.« Wiebke schmunzelte. »Du wolltest mir etwas über Carsten erzählen.«
»Wollte ich gar nicht. Du hast mich drauf angesprochen«, korrigierte Christine.
»Und?«
»Na ja. Also, wir haben uns ab und an mal getroffen. So zum Essen. Mittags. Carsten ist in letzter Zeit ziemlich hartnäckig.«
»Ist er?«
»Ja.« Christine überlegte, ob und, wenn ja, was sie Wiebke erzählen sollte. Am besten wäre es natürlich, wenn sie den Mund hielte. Andererseits: Wiebke gehörte nicht zu ihrem Alltag, und es tat einfach gut, mal loszuwerden, wie ihr ums Herz war. Natürlich nicht ganz, für die völlige Vertrautheit gab es für sie nur Gudrun, aber dennoch war es schön, einfach so zu reden.
Während sie Wiebke also erzählte, dass sie sich in seiner Gegenwart zunehmend wohler fühlte, dass sich eine Vertrautheit einpendelte, die sie mit vorsichtiger Skepsis betrachtete, piepte ihr Handy.
»Das ist er, oder?«, fragte Wiebke lachend, als Christine das Telefon aus der Tasche zog, die sie neben sich auf einem Terrassenstuhl platziert hatte, und die SMS öffnete: Hätte ich gewusst, dass du heute auf der Insel bleibst, wäre ich rübergesegelt. Und hätte dir für die Nacht eine Herberge auf der »Henriette« angeboten .
»Ja.« Christine schmunzelte. »Das ist er. Ich antworte mal kurz, wenn das okay für dich ist.« Normalerweise verbot das der gute Ton, aber Wiebke war eben doch nicht nur eine flüchtige Bekannte, und so grinste sie auch nur und stand auf.
»Ich bezieh dein Bett. Also lass dir Zeit.«
In diesem Moment, als Christine allein auf der Terrasse saß, der Mond am Himmel schien, ihr Handy auf die Beantwortung der SMS wartete und auf dem Tisch die Kerzen flackerten, spürte sie, dass die lange Zeit der Traurigkeit endlich vorbei war. Dass sie wieder Leben in und um sich spürte. Ohne groß zu überlegen, tippte sie die Antwort ein: Lieb von dir, aber das wäre mir zu gefährlich. Du weißt ja: Traue niemals einem Staatsanwalt. Schlaf gut! C.
Dann stellte sie ihr Telefon auf lautlos, allein schon um zu vermeiden, dass sie Carstens eventuelle Antwort hörte und dadurch in die Versuchung käme zu antworten. Mit einem wohligen Seufzer lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück und betrachtete die Mücken, die um eine Citronella-Kerze herumtanzten. Ihre Gedanken wanderten zurück zu Simone Gerjets. War auch sie eine Zitrusfrucht, ein exotisches Etwas gewesen, als sie auf die Insel kam? Sie war attraktiv, lebhaft und hatte, nach allem, was Christine wusste, eine spontane und offene Art. War sie deshalb zu einem besonderen Anziehungspunkt für die männlichen Insulaner geworden? Marlene Dietrichs Song fiel ihr ein: »Männer umschwirren mich, wie Motten das Licht, und wenn sie verbrennen, ja dafür kann ich nichts …« War es
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