Mord Wirft Lange Schatten: Mitchell& Markbys Dreizehnter Fall
leckte er die Spitze seines Stifts. Als er noch jung und unerfahren gewesen war in seinem Beruf, hatte er gelernt, jede noch so unbedeutende Kleinigkeit aufzuschreiben.
»Du denkst, du erinnerst dich, mein Junge, aber glaube mir, du vergisst es!«, hatte sein Mentor immer gesagt. Und so hatte Stanley bereits geschrieben: Sehr heiß im Gerichtssaal.
Und es würde wahrscheinlich noch heißer werden. Der Saal war nicht besonders groß. Die Pressebox war eine einzelne Bank an der Wand, abgetrennt durch eine Holzwand und im rechten Winkel zu den übrigen Bänken im Raum. Der Zeugenstand befand sich zu Stanleys Linken. Vor ihm und ein Stück weit rechts, an der gegenüberliegenden Wand und mit den Gesichtern zum Richter, saß die Jury. Hinter der Jury war eine Reihe frei, dann kamen die Anklagebank, das Geländer und dahinter die Bänke für die Öffentlichkeit, die sich rasch mit Menschen füllten. Am Eingang am Ende des Saals herrschte heftiges Gedränge. Eingeklemmt wie Sardinen, notierte Stanley, und es stinkt auch fast genauso.
Endlich hatte das Publikum Platz genommen und hielt den Atem an in Erwartung des dramatischen Augenblicks. Er kam. Wie der Teufel in einem Bühnenstück, der durch eine Falltür auftauchte, erschienen William Oakley und seine Wachen, zuerst die Köpfe, dann die Körper, kamen sie eine schmale Treppe hinauf, die in einen unterirdischen Tunnel zwischen Gefängnis und Gerichtsgebäude führte. Oakley wurde zu seinem Platz auf der Anklagebank geführt, und wer oberhalb von ihm saß, verrenkte sich den Kopf, um ihn zu sehen. Das war der Mann, den zu sehen sie gekommen waren. Das war der Mörder! Die Wachen nahmen ihre Plätze auf der freien Bank ein, wo sie eine steife Masse rotgesichtiger Köpfe unter schweren, viel zu warmen Wolluniformen bildeten.
Rasch wurden die einleitenden Plädoyers vorgetragen. Die Verteidigung plädierte in lautem Ton auf
»Nicht schuldig«, und das Publikum nahm es mit Genugtuung auf. Hätte Oakley sich schuldig bekannt, wäre die gesamte Angelegenheit nach wenigen Minuten vertagt worden, und man hätte alle nach Hause geschickt bis auf den Angeklagten und die Wachen, die ihn durch den unterirdischen Tunnel in das Gefängnis zurück und irgendwann zu seiner Verabredung mit dem Henker gebracht hätten.
Der Anwalt der Krone, Mr. Taylor, groß, dünn und mit einem langen Hals, erhob sich und fasste die Revers seiner Robe mit beiden Händen.
»Und los geht’s!«, murmelte der Mann von Reuters. Der gesamte Gerichtssaal hielt gemeinsam den Atem an.
»Meine Herren Geschworenen«, begann Taylor.
»Wir sind heute hier zusammengekommen, um über ein grauenhaftes Verbrechen zu urteilen, grauenhaft in seiner Planung und Ausführung und durch die Hand des Schicksals noch grauenhafter in seiner Vollendung.«
Guter Start, dachte Stanley und kritzelte eifrig mit. Der alte Knabe ist ein geschickter Redner.
»Der Angeklagte William Oakley«, fuhr Taylor fort,»hat eine reiche Frau geheiratet und während der Dauer der Ehe ihr Vermögen verwaltet sowie ihre Geschäftsinteressen im Auge behalten. Das war sehr bequem für ihn, weil er ein Mann ist, der viel Geld braucht. Er ist ein Spieler, der sich regelmäßig auf den Rennplätzen herumtreibt, und ein Schürzenjäger obendrein! Mrs. Oakley war sehr jung, gerade erst achtzehn Jahre alt, als sie geheiratet hat, und sie war es gewohnt, sich dem Urteil ihres Mannes zu beugen. Doch mit den Jahren fand Mrs. Oakley heraus, dass ihr Mann sie unablässig betrog, und da sie nun eine erwachsene Frau von dreißig Jahren und kein dummes kleines Mädchen mehr war, beschloss sie, etwas dagegen zu unternehmen. Der letzte Tropfen, der das sprichwörtliche Fass zum Überlaufen brachte, war William Oakleys frische Affäre mit dem Kindermädchen, Daisy Joss. Mrs. Oakley machte ihrem Mann deutlich, dass sie nicht länger bereit war, dies zu dulden. Sie würde nicht nur aufhören, seine ewig neuen Schulden zu bezahlen, sie dachte auch über eine Scheidung ihrer Ehe nach. Das war der Augenblick, in dem William Oakley einen Plan ausbrütete, wie er sich seiner Frau entledigen konnte. Wahrscheinlich kam ihm die Idee während eines Besuchs bei London Chemicals, einer Manufaktur, an der seine Frau Anteile besaß. Arsen, dieses wohl bekannte und überall erhältliche Gift, wurde in der Manufaktur zur Herstellung von Rattengift verwendet. Es war ein Leichtes für Oakley, heimlich und ohne Eintrag in die Giftbücher eine gewisse Menge davon mitzunehmen.
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