Mord Wirft Lange Schatten: Mitchell& Markbys Dreizehnter Fall
Augen fixierten sie mit verhohlenem Spott, doch Damaris fühlte sich davon weniger brüskiert als von der Art und Weise, wie er sie anredete.
»Liebe Cousine«, pah! Es war ihr egal, wenn er sich mit dem Boiler in die Luft jagte, und seine
»liebe Cousine« war sie schon lange nicht. Sie konnte sich kaum überwinden zu glauben, dass er überhaupt mit ihr verwandt war. Sie wusste, dass er ihr Zusammenzucken bemerkt hatte und dass es ihn amüsierte. Er würde nicht laut auflachen, dazu war er zu clever. Sie wusste, dass sie in Gegenwart von jemandem war, der extrem clever war, und die Hilflosigkeit, in der sie sich befand, entsetzte sie geradezu. Wie gut war sie ausgerüstet für den Kampf der Gedanken, der vor ihr lag? Ihre eigenen geistigen Kräfte waren zwar gut in Form für ihr Alter, doch sie wusste, dass das Gehirn einer zweiundachtzigjährigen Frau chancenlos war gegen das eines jungen – wie alt war er noch gleich? Neunundzwanzig? Dreißig? Er erschien ihr unglaublich jung. Und doch – irgendetwas war an diesem jungen Mann, irgendetwas, das alt war. Sie wusste nicht genau, was es war, bis ihr ein Sprichwort einfiel: Jung an Jahren, alt an Sünden – es schien alles zu erklären. Bin ich vielleicht unfair?, fragte sie sich, und plötzlich hatte sie Gewissensbisse. Gebe ich diesem Menschen die Schuld für etwas, von dem ich im Grunde genommen nicht das Geringste weiß, etwas, das sich vor mehr als hundert Jahren ereignet hat und wirklich längst in die Tiefen der Geschichte verbannt gehört? Doch wie konnte man etwas in die Tiefen der Geschichte verbannen, wenn es lebensgroß hier vor einem stand und einen aus großen, dunklen, funkelnden Augen angrinste? Sie klammerte sich an Alltäglichkeiten wie an einen Rettungsring und sagte vorsichtig:
»Ein Wort zu den Mahlzeiten. Du nimmst dein Frühstück selbstverständlich mit uns gemeinsam ein, und wenn du hier bist auch das Mittagessen. Doch meine Schwester und ich sind es nicht gewöhnt, abends noch etwas zu essen. Wir brauchen es nicht. Wenn überhaupt, machen wir uns etwas Leichtes, einen Toast oder ein Sandwich, weiter nichts. Deswegen habe ich dich für das Abendessen im Feathers angemeldet. Das ist ein Pub, zwei Minuten zu Fuß von hier, immer die Straße entlang. Sie wissen Bescheid, dass du zu uns gehörst. Geh einfach rein und sag der Wirtin, Mrs. Forbes, wer du bist.« Sie konnten unter keinen Umständen für einen Mann kochen, das hatten Damaris und Florence sehr schnell entschieden, nachdem feststand, dass er kommen würde. Nicht mit dem alten Gasherd in der Küche, der mal funktionierte und mal nicht, und mit der ganzen damit verbundenen Arbeit, ganz zu schweigen von den Einkäufen. Mrs. Forbes war sehr verständnisvoll und hilfsbereit gewesen. Sie war eine Geschäftsfrau, zugegeben, und hatte hart mit Damaris und ihrer Schwester verhandelt. Damaris’ Intuition sagte ihr, dass die finanziellen Aufwendungen für die Verköstigung ihres Cousins auf die Gastgeberinnen fallen würden. Die gleiche Intuition hatte verhindert, dass sie Jan Oakley für die gesamte Dauer seines Aufenthalts bei Vollpension im Feathers einquartiert hatte. Er würde sie Geld kosten, doch Damaris war entschlossen, die Ausgaben so gering wie möglich zu halten. Jan würde das billigste Abendessen vorgesetzt bekommen (in der Regel etwas in der Art von Kartoffelpüree und Würstchen oder Burger und Pommes frites). Die Rechnung würde Damaris von Mrs. Forbes erhalten, wenn Jan wieder abgereist war. Falls er etwas anderes wollte, würde Mrs. Forbes ihm mitteilen, dass das mit Extrakosten verbunden war, die Jan aus der eigenen Tasche und sofort begleichen musste.
»Liebe Cousine Damaris …« Das macht er absichtlich!, dachte Damaris. Das macht er absichtlich, weil er genau weiß, dass ich es nicht mag!
»… du wirst feststellen, dass ich euch nicht die geringste Mühe machen werde. Im Gegenteil, solange ich hier bin, helfe ich gerne im Haus. Was auch getan werden muss – ich werde es mit Freuden tun! Ich bin handwerklich sehr begabt.«
»Wir haben bereits einen Handwerker«, entgegnete Damaris unfreundlich.
»Wir haben Ron Gladstone.« Jan hatte sich zu ihr vorgebeugt, und auf seinem Gesicht stand lediglich der Wunsch, ihr zu gefallen. In ihr regte sich der Impuls, ihn wegzustoßen, und sie vermochte ihn nur mühsam zu unterdrücken. Falls Jan ihre Worte gehört hatte, dann ließ er es sich nicht anmerken. Er ging in das Zimmer und blieb dann wie angewurzelt stehen. Damaris
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