Mord zur Bescherung
Ankunft hatte sie nervös gemacht. Ihr Vater hatte in Maine gelebt, und dieser Mann behauptete, ihn gekannt zu haben. Aber stimmte das wirklich? Und was machte er jetzt hier?
Sie sah sich noch einmal das Anmeldeformular an. Die Großbuchstaben waren ziemlich schön geschrieben, aber als Kalligraphie konnte man sie nicht bezeichnen. Für die kunstvolle Schrift im Brief und auf dem Umschlag brauchte man vielleicht mehr Zeit?
Sie fragte sich, ob sie das misstrauische Hirn ihrer Mutter geerbt hatte. Amateurdetektivinnen mussten ja ständig Verdacht schöpfen. Vielleicht war das einfach in ihrer Familie bei allen so, und warum auch nicht? Warum sollte sie kein Sherlock-Holmes-Gen haben?
Plötzlich war sie so neugierig auf ihren Vater wie noch nie.
Später wunderte sie sich darüber, wie impulsiv sie gehandelt hatte. Im Augenblick konnte sie aber nicht anders. Sie wählte die Nummer im Zimmer des Professors.
»Herr Professor, ich habe darüber nachgedacht, dass Sie meinen Vater kannten. Wir müssen uns einmal treffen, Sie und ich. Ich würde gern hören, was Sie und er zusammen gemacht haben – wenn Ihnen das nicht zu große Umstände bereitet.«
Sie merkte, dass er zögerte, und sie überlegte, dass sie ihm auch die Möglichkeit geben musste, ihr Angebot abzulehnen.
»Wenn es Ihnen zu viel Mühe bereitet, dann sagen Sie das bitte.«
»Nein, kein Problem.«
Offenbar entsprach das nicht ganz der Wahrheit, aber sie hatte gefragt, und er hatte ja gesagt.
»Ich könnte Ihnen im Gegenzug vielleicht die Stadt zeigen? Sagen Sie mir einfach, was Sie gern sehen möchten.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, antwortete Jake Truebody. »Geschichte ist mein Fach. Deswegen bin ich hier, und, ehrlich gesagt, wäre ich sehr dankbar, wenn mich eine so hübsche junge Dame wie Carl Drivers Tochter herumführt. Aber wenn es Ihnen zu viele Umstände macht …«
»Überhaupt kein Problem.«
»Dann stimme ich gern zu. Wie kann ich ablehnen, wenn eine so charmante junge Dame anbietet, mich bei der Hand zu nehmen?«
»Quatsch mit Soße«, murmelte Lindsey, als sie den Hörer aufgelegt hatte. Jake Truebody hatte sicher einen Grund für seinen Besuch. Weiß der Himmel, worin dieser Grund bestand. Sie konnte nur hoffen, dass es nichts war, was das Leben ihrer Mutter auf den Kopf stellte.
Fünf
»Mallory und Scrimshaw. Sind wir die Ersten?«
Honey bestätigte das und schenkte ihnen ihr strahlendstes Lächeln. Die Leute, die heute zehn Plätze für eine Firmenweihnachtsfeier plus Übernachtungen für zehn Personen reserviert hatten und schon im Voraus das Abendessen am ersten Feiertag gebucht hatten, waren im Hotel erschienen. Daran hatte sie natürlich nicht gezweifelt. Es war ja alles schon bezahlt. Und Angestellte schauten dem geschenkten Gaul nicht ins Maul. Wenn der Chef zahlte, dann waren alle ausnahmslos mit von der Partie, das war Honeys Erfahrung.
Sie strahlte begeistert weiter.
»Willkommen im Green River Hotel. Wenn Sie sich bitte hier erst eintragen, dann können Sie schon einmal auf Ihre Zimmer gehen. Die Party fängt um acht Uhr an. Sie haben also noch viel Zeit, um sich zurechtzumachen. Ab Viertel nach sieben reichen wir in der Bar ein Glas Champagner auf Kosten des Hauses.«
Das festgetackerte Lächeln drohte inzwischen ihr Gesicht in zwei Teile zu spalten. Der Countdown hatte begonnen. Während der Feiertage waren nur Dauergäste und Teilnehmer an den Weihnachtsessen im Haus. Damit kam man leichter zurecht als mit den vielen Weihnachtsfeiern und den Leuten, die nur kurze Zeit blieben und innerhalb von ein, zwei Tagen ein- und auscheckten.
Der Anblick der Angestellten von Mallory und Scrimshaw erhöhte ihre Festtagsstimmung. Alle – mit Ausnahme einer Frau mit blauschwarzem Haar und kreidebleichemTeint – waren so rosig im Gesicht wie Engelchen auf einer Pralinenschachtel. Das Wetter war für Dezember eisig. Sonst wurde es in Bath eigentlich erst im Januar richtig kalt. Dieses Jahr bildete eine Ausnahme. Es war Schnee gefallen, und auf dem Avon trieben schon ein paar dünne Eisschollen wie kühle weiße Pfannkuchen. Sogar den Eisbären, der in Bear Flat – einem Stadtteil bei der A37 – auf der Markise einer Kneipe stand, hatte man angeblich bibbern sehen.
»Ich kann das alles gar nicht glauben«, hauchte eine Blondine mit kugelrunden Augen, die sich die Kristallleuchter, die Einrichtung im Stil des Louis Quinze und die zartblauen Wände ansah.
Honey nahm an, dass sie sich auf die geschmackvolle
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