Mord zur Bescherung
schließlich, dass Brandy einen gegen den schlimmsten Frost schützt. Deswegen tragen doch die Bernhardiner immer ein Fässchen mit Schnaps um den Hals. Aber vielleicht gibst du trotzdem ein bisschen mehr Sahne in die Soße, Herr Chefkoch? Unseren Gästen beim Weihnachtsmittagessen wird ohnehin warm sein, und du hast selbst gesagt, dass der Plumpudding eine gehörige Dosis Rum, Brandy und Whisky enthält, außer den üblichen Sultaninen, Korinthen und Rosinen, dem Zitronat und Orangeat. Meiner Meinung nach brauchen wir da einen Geschmack, der einen Kontrast bildet, damit die Leute das köstliche Aroma deines Puddings voll auskostenkönnen. Das hat dein Pudding doch verdient, meinst du nicht? Aber selbstverständlich überlasse ich die letzte Entscheidung dir.«
Man musste taktvoll zu schmeicheln wissen, wenn man mit einem Chefkoch zu tun hatte. Jede Mahlzeit war in den Augen ihres Schöpfers ein künstlerisches Meisterwerk. So ein Küchenchef brauchte ständig Lob, lebte praktisch von den Kommentaren der Menschen mit den feinen Gaumen, die Gastrokritiken schrieben, aber selbst nicht mal ein Ei kochen konnten.
Sie musste es unbedingt schaffen, dass er den Brandygehalt in der Soße ein wenig reduzierte. Die meisten Gäste würden zum Zeitpunkt des Desserts ohnehin schon recht beschwipst sein. In Brandy eingelegte Rosinen plus eine mit viel Brandy angereicherte Soße würden sie wahrscheinlich für den Rest des Tages niederstrecken. Zumindest würden sie Mary Janes Gespenstergeschichten nur leise schnarchend erleben.
Draußen war es kalt und neblig, als Honey sich auf den Weg machte, bis zu den Ohren in ihren lila Paschminaschal und ab da in eine schwarze Strickmütze gemummelt, die eine entfernte Ähnlichkeit mit einer Skimütze hatte. Der Glockenhut und der gestrickte Kaffeewärmer waren den Weg alles Irdischen gegangen. Doch seit sie diese furchterregende Haarfarbe hatte, war sie kaum noch ohne Hut unterwegs.
Sie schaute in ein paar Friseursalons herein, weil sie entgegen aller Erwartung immer noch hoffte, dass vielleicht jemand einen Termin abgesagt hatte. Doch niemand hatte storniert.
Der weiße Nebel blieb hartnäckig über der Stadt hängen und hüllte die alten Gebäude von Bath in einen gespenstischen Schleier ein. Honey schien es, als befände sich alleshinter einem feinen Gazevorhang. Sämtliche harten Kanten waren gemildert, und die Weihnachtsdekorationen hinter den verschwommenen Fenstern schimmerten matter.
Die Stadt war erfüllt von den Bildern, Gerüchen und Klängen der Weihnachtszeit. Überall Lichterketten, Weihnachtsbäume und Weihnachtsmänner in roten Anzügen. Der Duft von gerösteten Maroni, heißen Pasteten und frischem Karamell lag in der Luft.
Im Abbey Churchyard spielte die Salvation Army Band das Weihnachtslied Hark, the Herald Angels Sing . Wo einmal der alte Brunnen gewesen war, wirbelten goldene Pferde auf einem Karussell herum.
Man hatte den Brunnen in eine Nebenstraße versetzt, um Raum für einen Neubau zu schaffen, ein schlimmer Fehler, fand Honey. Früher trafen sich die Leute am Brunnen. Jetzt war da nur noch ein großer leerer Platz zwischen Geschäften, die das gleiche Zeug verkauften, das überall im Land – vielleicht auf der ganzen Welt – in den Hauptstraßen verkauft wurde.
Das Karussell war ein Volltreffer. Kinder quietschten vor Vergnügen, obwohl der Frost ihre Näschen in kleine rosa Knospen verwandelt hatte.
Das Rentier, das unter den Kolonnaden stand, war mit einem Wellenmuster aus Gold und Dunkelblau verziert. Auf einem Schild stand sein Name: Aurora Borealis. Nordlicht. Die rote Plastiknase war ein Extraeffekt. Die Leute deuteten lachend darauf. Auch Honey musste lächeln.
Sie kaufte ihren Wurstvorrat ein, den man im Geschäft gleichmäßig auf zwei Tragetaschen verteilte, damit er leichter zu transportieren war. Damit sollten sie über Weihnachten und Neujahr kommen.
Da der Morgen halb vorüber und daher Kaffeezeit war, gönnte sich Honey eine heiße Schokolade mit einem dickenKlecks Schlagsahne. Zur Schokolade gab es zwei Amaretto-Kekse, ganz weiche, die einem auf der Zunge zergingen.
Als sie so allein dasaß, heiße Schokolade trank und ihre Lieblingskekse knabberte, überlegte sie, was für ein Glückspilz sie doch war. Mr. Scrimshaw war anscheinend ein einsamer alter Mann gewesen, ein Mensch ohne Freunde, ohne Familie und mit einem spartanischen Lebensstil.
Sie freute sich – freute sich sehr –, dass sie eine Familie hatte. Nun gut, es gab das
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