Mord zur Bescherung
Das würde wahrscheinlich erst Anfang Januar der Fall sein. Den Angestellten konnte es recht sein. Sie bekamen ihr Gehalt weitergezahlt, obwohl man natürlich nicht wusste, wie sicher ihre Arbeitsplätze waren, jetzt, da der Chef tot war. Irgendjemand würde den Verlag sicher übernehmen. Es musste doch einen Erben geben – irgendwo.
Das Licht der alten Gaslaterne an der Außenmauer spiegelte sich flackernd in den unteren Ecken der Fensterscheiben. Das Licht war immer gleich hell und änderte seinePosition nicht, zumindest sah es zunächst so aus. Dann plötzlich wanderte der Lichtschein, aber das lag nicht an der alten Gaslaterne – jemand im Inneren des Gebäudes benutzte wohl eine Taschenlampe.
Honey kniff die Augen zusammen und überlegte rasch. Wenn Scrimshaw oder Mallory als Gespenster in ihrem Büro herumspukten, dann würden sie keine Taschenlampen benötigen. Es musste ein Mensch dort drin sein. Ein Mensch, der da nichts zu suchen hatte. Jeder rechtmäßige Besucher hätte ja das Licht eingeschaltet.
Tallulah drückte Honey eine Weihnachtskarte in die Hand. »Bitte sehr, Mrs. Driver, fröhliche Weihnachten und ein glückliches neues Jahr!«
»Ihnen auch!«
»Und vielen Dank für die Pralinen.«
Honeys Herz klopfte, und es kribbelte sie in den Füßen. Sie machte einen Schritt zurück, dann noch einen, wollte so schnell wie möglich weg, war wild entschlossen, herauszufinden, wer zum Teufel sich da drüben herumtrieb.
»Danke für die Weihnachtskarte, und ein frohes neues Jahr für Sie, Tallulah. Für Sie alle!«
Die meisten Angestellten erwiderten Honeys gute Wünsche, Ariadne kurz angebunden, wie immer. Honey fragte sich, wie ihre Stammkundinnen sie wohl wahrnahmen. Sozialkompetenz war nicht gerade Ariadnes Stärke. Aber was man nicht alles für einen guten Haarschnitt auf sich nahm!
Es wurde allmählich dunkler. Nur wenige Fußstapfen waren im frisch gefallenen Schnee zu sehen. Eine der Spuren führte zum Eingang von Mallory und Scrimshaw.
Die Polizisten, die eigentlich die Tür hätten bewachen sollen, waren nirgends zu sehen. Das Band, mit dem man den Tatort abgesperrt hatte, war noch intakt. Honey duckte sich drunter durch.
Die Tür zum Gebäude befand sich unter einem steinernen Vorbau, den zwei dorische Säulen zierten. Die hatte man anscheinend später hinzugefügt. Irgendein Untertan König Georgs hatte im achtzehnten Jahrhundert wohl den Versuch unternommen, den alten Kasten auf den neuesten modischen Stand zu bringen. Aber es hätte schlimmer kommen können, überlegte Honey. Im viktorianischen Zeitalter hätte man das Haus sonst vielleicht abgerissen.
Wie sie erwartet hatte, war die Eingangstür nicht verschlossen. Sie kannte die Vorgehensweise der Polizei und wusste, dass kein Polizist das Haus so zurückgelassen hätte. Vielleicht hatten die Leute nur vor der Kälte Zuflucht im Inneren gesucht? Es ging ihr durch den Kopf, dass die Taschenlampe möglicherweise einem der beiden Wachtmeister gehörte.
Wäre ihre Neugier nicht so überwältigend groß gewesen, sie hätte den möglichen Eindringling dem Revier in der Manvers Street gemeldet. Aber sie war nun einmal sehr neugierig.
Unter dem dunklen Vorbau zögerte sie einen Augenblick. Der gesunde Menschenverstand und ihr Selbsterhaltungstrieb sagten ihr, dass sie sich lieber nicht ins Gebäude hineinwagen sollte. Wollte sie es riskieren, umgebracht zu werden, auch noch auf drei verschiedene Arten wie der arme alte Clarence? Aber die Neugier siegte.
Durch die Haustür gelangte man in einen dunklen Flur. Das Licht einer an der Wand angebrachten Alarmanlage leuchtete ab und zu auf. Schatten bewegten sich, waren im blinkenden Licht zu sehen, verschwanden dann wieder. Im einen Augenblick war alles klar umrissen, im nächsten völlig verschwunden.
Plötzlich schien das Licht noch mehr zu flackern. Unter Umständen reagierte es auf ihre Anwesenheit? Da merkte sie,dass sie synchron mit dem verdammten Lämpchen blinzelte. Hätte sie doch bloß eine Taschenlampe mitgenommen!
Wer immer die schönen alten Räume in Büros unterteilt hatte, hatte dies vor einiger Zeit gemacht. Heutzutage würde der Denkmalschutz dergleichen nicht mehr erlauben. Türen mit Glaseinsätzen wechselten sich mit den alten holzvertäfelten Türen mit ihren schweren Schlössern und ihrem dunklen Anstrich ab. Es sah ganz so aus, als hätte Scrimshaw nichts verändert, wenn es nicht unbedingt sein musste. Es mochte ein wenig spartanisch sein, aber solange es
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